Beiträge von
 Michael Becker
 Prof. Peter Michael Hamel
 Jan Müller-Wieland
 Dr. Harald Siegers
 Detlev Glanert
 Prof. Peter Roggenkamp
 Imme-Jeanne Klett
 Ingo Zander

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Na, Gott sei Dank! Wenigstens ein Genre ist von allem verschont geblieben: Weder Einsparungen noch Marketing-Gags haben der Kammermusik etwas anhaben können. Sie ist das kleinste Boot in der klassischen Flotte und sie hält seit Jahrhunderten gelassen ihren Kurs. Es interessiert sie nicht, dass sie im reformierten Kulturprogramm nicht mehr vorkommen darf. Es ist ihr egal, dass befrackte Wochenendharmonisten ihr im Dekaden-Rhythmus den Rang ablaufen. Sie ist, was sie ist: Die Kammermusik. Sie ist das Kaleidoskop der Musikszene. Die großen Solisten spielen sie gerne: Heifetz - Primrose - Piatigorsky oder Mutter - Giuranna - Rostropowitsch. Da werden Beethoven-Trios und Dohnanyi-Serenaden virtuos und in einer Aufnahmesitzung runter gerissen, und: Irgendwie macht es trotzdem unheimlich Spaß, sie zu hören. Dann kommen die Exegeten: Juilliard, Beaux Arts. Instrumental nicht annähernd so spektakulär, wachsen sie über Jahre zusammen und entdecken Welten, die den Stars ewig verborgen bleiben. Es ist wie im Fußball: In der Kammermusik kann das Ensemble besser sein als die Summe der Einzelspieler. Sie ist ein soziologisches Phänomen. Ärzte, Juristen und Installateure, Musikagenten und Intendanten spielen zusammen. Orchester-Arbeitsphasen münden in Kammermusik-Sessions bis zum Morgengrauen. Mendelssohn-Oktett nachts um Eins, Mozart-Klarinettenquintett langsamer Satz als Endlosschleife. Mit einem entrückten Lächeln auf den Lippen wird nach jedem Satz Dvorak-Serenade ein Bier gestemmt, je nach Instrument bis zum Augenstillstand. Und sie ist das Unbeschreibbare in der Musik: Bücher über Kammermusik gibt es mehr als Bibel-Übersetzungen, und niemand kann das Geheimnis wirklich nennen, dass dieses Genre so unsterblich schön macht. Man kann darüber nicht urteilen wie über einen misslungenen Klavierabend oder eine rüde durchgeprügelte Haydn-Sinfonie. Es ist die Mischung aus Liebe zur Musik, Achtung vor den Mitspielern, Spaß an der Gemeinschaft und Selbstbewusstsein, die diese Form des Musizierens erlaubt und verlangt. Kammermusik ist alles auf einmal. Sie ist das Glasperlenspiel. Und damit sitzt sie zwischen den Stühlen. Gott sein Dank!
Michael Becker ( Intendant der Niedersächsischen Musiktage)
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
„B.A.CH. - Between all chairs“
Kammermusik zwischen Konzertmanagement und nichtentfremdeter Kunstmusikausübung,zwischen U und E, zwischen Expertenelite und Musikliebhaberbasis. Improvisierte Kammermusik zwischen Klassik und Popularmusik. „Dazwischen und darüber hinaus...“ Nicht mit Notendruck, sondern mit Schallplatten wollte/sollte sich Anfang der 70er Jahre der damalige Juniorchef des Hauses Schott`s Söhne als Verleger profilieren.Die ausschließlich Neuer Musik verpflichtete KleinfirmaWERGO wurde aufgekauft und mit der ersten BETWEEN-LP wurde 1971 in der Reihe „Centerpoint“ der Rahmen abgesteckt, in dem aktuelle Musik auf dem Schallplattenmarkt einen Platz finden sollte, eine improvisierte Kammermusik,welche sich keiner der etablierten Musikrichtungen zuordnen ließ. Denn wenn sich heute „U- und E-Musik“ oft kaum voneinander trennen lassen, wenn Popmusik avantgardistische Elemente wie „Musique concrète“ aufnimmt und umgekehrt („cross over“), so betrat man 1970 mit solchen Ansätzen Neuland. In München war es vor allem das Haidhausener Milieu, wo sich in Musikkneipen wie Birdland oder Song Parnass Musiker aus verschiedenen Kulturkreisen trafen und miteinander musizierten. Hier entstand – neben Formationen wie Amon Düül oder Embryo – auch die Gruppe BETWEEN. Denn seit 1967 gehörten zu den häufigen Gästen im Song Parnass : Ulrich Stranz und ich – wir beide studierten Komposition bei Günter Bialas an der Münchner Musikhochschule und brachten unsere Erfahrungen in klassischer und moderner Komposition mit;Roberto C. Détrée aus Buenos Aires, seit 1967 in München - er war mit Samba und Bossa-Nova-Rhythmen als Gitarrist erfolgreich, leitete die Gruppe Latin Friends und entwickelte eigene Instrumente; Robert Eliscu, der in New York an der Eastman School of Music studiert hatte und Solo-Oboist der Münchner Philharmoniker, des Münchner Bach-Orchesters und Gast-Solist bei den Berliner Philharmonikern gewesen ist. Sein Steckenpferd: die Musik des Mittelalters. Wir saßen zusammen und diskutierten, begannen miteinander zu improvisieren und entdeckten dabei ein gemeinsames Musikverständnis, das gerade wegen des Aufeinandertreffens verschiedener Musikkulturen zu interessanten und oft überraschenden Ergebnissen führte. 1970 reifte unser Entschluß, eine feste Gruppe zu bilden, doch wie sollte sie heißen? Alle Elemente, mit denen wir umgingen, sollten darin Platz finden, nach „SYN“ schien die Idee „B.A.C.H.“ – „Between All Chairs“ dem Vorhaben am besten gerecht zu werden. „Zwischen allen Stühlen“ jedoch hat im Englischen keine vergleichbare Bedeutung, so blieb „BETWEEN“ übrig, als Name und Programm zugleich. 1971 kamen dann die schwarzamerikanischen Congaspieler Cotch Black und Charles Campbell dazu - Cotch war in den USA mit verschiedenen Rock- und Jazz-Formationen aufgetreten (u.a. mit Bob Dylan und „Sinto“),Charlie war auch als Tänzer, Sänger und Schauspieler tätig.Und sogar ein später weltberühmter Flötist, James Galway aus Irland, spielte mit uns, er hatte seine Karriere beim Royal Philharmonic Orchestra in London begonnen und war Soloflötist bei den Berliner Philharmonikern. Schließlich wurde anläßlich der ersten BETWEEN- Aufnahmen Ulrich Kraus, Studienkollege von der Münchner Musikhochschule und inzwischen Tonmeister beim Bayerischen Rundfunk unser ständiger Toningenieur/Tonmeister/Musikdramaturg in einer Person. Von 1973 an brachten weitere Musiker aus aller Welt ihre musikalische Vergangenheit bei unserer Gruppe ein: Tom van der Geld (Vibraphon) und Roger Jannotta (Blasinstrumente), beide aus den USA (sie bildeten die Gruppe Children at Play), Gary Lynn Todd aus Kanada (Kontrabaß), Jeffrey Biddeau aus Trinidad (Congas), Sankha Chatterjee aus Kalkutta (Tabla), dazu Peter Müller Pannke aus München (Tanpura, Perc.), für die Hesse Between Music 1974 auch Bobby Jones (Saxophon) und der Münchner Domorganist Franz Lehrndorfer. In den zehn Jahren des Bestehens haben wir mit BETWEEN insgesamt sechs LPs bei WERGO veröffentlicht:
Einstieg (1971) And the waters opened (1973) Hesse Between Music (1974) Dharana (1974) Contemplation (1976-77) Silence beyond time (1979)
Davon sind „Dharana“ und „Hesse Between Music“ als CD bereits wieder erschienen, die restlichen werden nun neu aufgelegt, ergänzt durch bisher unveröffentlichte Titel, u.a. aus einer Konzertreihe des Bayerischen Rundfunks ("Musik zwischen den Welten"), die zwischen 1976 und 1979 stattfand. Für die Gruppe prägend wurde auch Carl Orff, der in seinem „Orff-Schulwerk“ die Idee einer „elementaren Musik“ verfolgte, die kulturübergreifend jedem zugänglich ist. In Einstieg sah er diese Idee verwirklicht, vor allem hinsichtlich der Tatsache, daß wir hier überwiegend improvisierten, und nicht, wie im Schulwerk üblich, lediglich als Modelle niedergeschrieben Arrangements nachgespielt wurden. Auf Carl Orffs Anregung hin und unter seiner Mitwirkung produzierte Alfred Krings vom WDR ab 1974 daher mit uns die Sendereihe “Improvisation ohne Noten – das Orff-Schulwerk und die Gruppe Between“, sie wurde über mehrere Jahre hinweg ausgestrahlt. Daneben hatten wir mit BETWEEN viele öffentliche Auftritte, als wichtigste seien genannt: 1972 in 2-tägigem Turnus auf der Spielstraße der Münchner Olympiade, 1974 Zusammenarbeit mit Luc Ferrari in Köln („Allo, ici la terre“), 1976 Metamusikfestival in West-Berlin, 1977 Weltmusiktage der IGNM in Bonn, 1978 Amsterdam (im „Melkweg“ und im „Kosmos“) und Donaueschingen im Rahmen der SWF-Reihe „Ars Viva“. In den 70-er Jahren begann der Siegeszug der live-Elektronik, doch schon aufgrund ihrer Entstehung spielte BETWEEN im wesentlichen „unplugged“, wir machten Kammermusik auf herkömmlichen Instrumenten und in dem dadurch gegebenen akustischen Rahmen. An der Nahtstelle zwischen akustischer und elektronischer Klangwelt nahmen wir vieles vorweg und bewegten uns dabei auf einem nur scheinbar elektronischen Boden. Was nach Synthesizer klang, war oft „nur“ eine verfremdete Orgel oder Bratsche, oder es wurde auf dem Motocello gespielt, einem Instrument, das sich Détrée im Rahmen seiner Klangexperimente gebaut hatte.Es handelt sich dabei um ein großes Monochord mit einer Baßsaite, die mit einem der Drehleier nachempfundenen, jedoch elektrisch angetriebenen Mechanismus zum Klingen gebracht und ähnlich einer Baßgitarre gespielt werden konnte. Die damit erzielbaren Klangräume und Effekte erinnern teilweise an Oskar Sala’s Trautonium aus den 1930-er Jahren und ließen sich selbst heute auf elektronischem Wege kaum herstellen. Ebenso hielt sich bei uns der für die Aufnahmen verfügbare technische Aufwand in Grenzen: Es gab nur sechs Mikrophone und zwei Stereo-Bandmaschinen, die Mischung mußte also während der Aufnahme stattfinden, wir hörten das Endergebnis samt Zuspielungen im Kopfhörer. Die akustische Balance entstand somit als Wechselwirkung zwischen Toningenieur und uns Musikern, angesichts unerwarteter Einfälle beim Improvisieren eine für alle Beteiligten recht spannende Situation. So minimal die technischen Hilfsmittel auch waren, so unterstützte dies das musikalische Vorhaben einer „Stegreifmusik“ in besonderer Weise, wurde das intuitive Miteinander beim Improvisieren geradezu herausgefordert, ganz anders, als es bei einer Mehrspurproduktion der Fall gewesen wäre, wo einer nach dem anderen seinen Part einspielt, ohne die Möglichkeit unmittelbarer Interaktion mit den anderen. Daher wurde dieses Verfahren auch später beibehalten, als eine größere Zahl von Mischpultkanälen und Mehrspurtechnik zur Verfügung standen. 1980 waren zehn Jahre einer intensiven Auseinandersetzung mit der musikalischen Vergangenheit jedes einzelnen vergangen, waren Stücke äußerst unterschiedlicher Prägung entstanden, hatten wir mit BETWEEN eine bunt-schillernde Verbindung hergestellt zwischen Klassik, Avantgarde, Popmusik, mittelalterlicher und fernöstlicher Musik sowie internationaler Folklore. Man war dem „Traum von der blauen Blume zwischen den Meilensteinen auf dem Weg zu einer zukünftigen Weltmusik“ nähergekommen. Die einzelnen Mitglieder der Gruppe gingen danach wieder ihre eigenen Wege, Eliscu, Campbell und Stranz sind nicht mehr am Leben. Die erreichte Synthese darf man auch Jahrzehnte später, wo sich die Kulturkreise durchdringen wie nie zuvor, noch immer als aktuell bezeichnen.
Prof. Peter Michael Hamel ( Komponist, Hochschule für Musik und Theater Hamburg )
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Aus meiner Komponistensicht ermöglicht das Schreiben von Kammermusik sich der eigenen Debauche (Ausschweifung) zu nähern wie mit einer Lupe. Das Ohr fokussiert sich intimer. Das rentiert sich auch für das Schreiben für große Besetzungen. Es ist in etwa wie das Wechselspiel in der Photografie zwischen Frosch- und Vogelperspektive oder wie in der Literatur zwischen Gedicht und Roman oder wie in der bildenden Kunst zwischen Kleinformat/Aquarell und "Wandgemälde". Aus Interpretensicht hat das Spielen von Kammermusik meines Erachtens noch einen erheblichen Fluchtpunktgedanken zusätzlich: Viele wunderbare MusikerInnen möchten quasi als Kompensation zum großen Orchesterklang und zur großen Orchesterhierarchie (Stichwort: TraumFABRIK) fliehen zu ihren eigentlichen Grundwerten (zu ihrer akustisch psychologischen Herkunft), dem präziseren Hören auf das was das eigene Ohr von den eigenen Fingern (und Lippen) transportiert und zu meist schon immer - seit dem Erlernen des jeweiligen Instrumentes - transportiert hat.
Jan Müller-Wieland ( Komponist )
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Zwischen den Stühlen? Nein, nein, diese Musik schwebt zwischen Himmel und Erde, aber nicht zwischen den Stühlen. Ich äußere mich als praktizierender, am Cello dilettierender Kammermusiker im nunmehr 50. „Dienstjahr“, und als solcher kenne ich mich mit Stühlen und der Kammermusik besonders gut aus. Da sitzen wir fest auf den Stühlen und erfreuen uns an den himmlischen Tönen der klassischen Streichquartette. Die Kammermusik, und dort besonders das Streichquartett und -quintett, gehört zum Schönsten, was die Klassik, die Romantik und in großen Teilen auch die Moderne in der Musik hervorgebracht hat. Nicht zu vergessen auch die vor allem in der Romantik aufkommenden größeren Besetzungen wie die Brahms Sextette oder das Mendelssohn Oktett. Aber das ist hier wohl nicht gemeint. Als Mitorganisator der Osnabrücker Kammermusiktage, die jährlich die Herzen der Osnabrücker Kammermusikfreunde erwärmen, kann ich schon eher etwas mit dem Thema anfangen. In der Tat ist doch etwas dran. Warum kommen in unsere Konzerte nicht viel mehr Leute, um die Perlen der Kammermusik zu genießen, dargeboten von Spitzenkräften der Kammermusikszene? Warum ist es so unendlich schwer, Dauersponsoren oder Mäzene zu finden, die solche wertvollen Veranstaltungen fördern? Warum sind die Politiker eher bei Fußballspielen zu finden als bei einem Kammermusikabend? Andererseits: Warum ist es möglich, dass ein Kammermusikfestival in Kuhmo in einem entfernten Winkel in Finnland 90 Konzerte in einem Sommer veranstalten kann, deren jedes fast ausverkauft ist? Oder die Schubertiade in Schwarzenberg im österreichischen Vorarlberg, für die ein großer Saal extra gebaut werden musste, um die Zuhörerzahlen zu bewältigen? Die Kammermusik steht in der Tat in einem Dilemma zwischen musikalischem Anspruch und dem Interesse der breiten Masse. War sie nicht schon so konzipiert, als in der Frühbarockzeit der Begriff Kammermusik im Gegensatz zur Kirchenmusik aufkam? Welche Kammer war denn gemeint? Sicher nicht das Wohnzimmer des Handwerkers oder Bauern, sondern die repräsentativen Gemächer der Fürsten, die sich eigene Hofmusiker hielten, um sich beim Divertimento zu zerstreuen oder um den Gästen gute Unterhaltung zu bieten. In fürstlichem Understatement nannten sie diese meist prunkvollen Räume Kammern und die darin gespielte Musik Kammermusik. Bezahlt wurden die Musiker auch nicht durch Verkauf von Eintrittskarten, sondern aus dem höfischen Budget für Kultur, wie auch immer dies finanziert wurde. Dann, als die ersten Komponisten frei schaffend daher kamen, Paradebeispiel Beethoven, Schubert, nahmen die Komponisten auf die Hörgewohnheiten der Zuhörer weniger Rücksicht und schon gar nicht auf das Können der Musiker: Beethoven sagte einmal zu seinem Quartettprimarius Schuppanzigh, als der sich über die Schwierigkeiten in seinen Streichquartetten beklagte: „Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?“ Hier liegt wohl des Pudels Kern: Der Geist, der zu Beethoven sprach, kann auch heute noch nicht immer von jedem verstanden werden. Zwar können in einer Zeit sehr guter Musikschulen sehr viele Musiker die Stücke spielen, aber der Zuhörer, den vielleicht ein Seal oder Sting anspricht, ist mit einem „Späthoven“ überfordert. Wir brauchen also für die Kammermusik eine „Hörelite“, die nun einmal 2% der Bevölkerung nicht überschreitet und deren Anteil, so behaupte ich, ohne es beweisen zu können, in der mitteleuropäischen Gesellschaft nie höher war. Und : Kammermusik ist nicht als Event zu verkaufen. Wir finden kaum große Namen wie Michael Jackson oder Robbie Williams, mit denen sich ganze Fußballstadien füllen lassen. Immer wieder hören wir von Sponsorenanwärtern in der Region: „Ja wenn ihr große Namen bringt, sind wir ja bereit, etwas zu tun.“ Aber die Kammermusik gibt das nicht her. Sie ist dem Wesen nach Ensemblemusik mit hohem Anspruch an das Hörverständnis und kann deshalb niemals große Zuhörermassen anziehen. Wir schätzen den Gesamtfundus des potenziellen Publikums für die Kammermusiktage in unserer Region auf etwa 3000 Personen, also etwa die besagten 2%. Wenn davon 200 zu einem Konzert kommen, sind wir schon sehr zufrieden. Könnte man diese Grundgesamtheit vergrößern? Nicht leicht: Vielleicht müssen wir doch den einen oder anderen großen Namen einbauen? Z.B. Anne Sophie Mutter oder Nigel Kennedy? Das finanzielle Risiko wäre groß, denn große Namen verlangen große Gagen, die finanziert werden müssen und es kommen vielleicht 500 statt 200 Zuhörer, aber keine neuen Interessenten. Die kann man nur durch langfristige Aufbauarbeit in Kindergärten und Schulen gewinnen, so wie es mit einigem Erfolg Sir Simon Rattle in Berlin versucht. Auch andere Initiativen in dieser Richtung sind beispielsweise hier in Osnabrück auf gutem Wege. Oder sollte man versuchen, den etwas verstaubt klingenden 450 Jahre alten Begriff Kammermusik zu modernisieren, etwa (es müsste dann ja englisch sein) Mini Classics oder Chamber Pops oder vielleicht Classic Light? Nein, das Problem liegt wohl an anderer Stelle. Die Zuhörerzahlen im klassischen Konzertsaal gehen zurück. Andererseits hören wohl mehr Leute klassische Musik, denn je, nimmt man alle Medien zusammen. Zum einen wächst die Zahl der ausübenden Musiker von hohem Rang rapide, die Zahl der Festivals steigt rasch, und, um in unserem regionalen Bereich zu bleiben, gerade wurde eine sterbende Meisterkonzertreihe durch zwei neue ersetzt. Dazu kommen die neuen Medien: Wir können uns ohne Schwierigkeiten alles herunterladen und im MP3 Player spazieren führen, oder in einer digitalen Hochglanzkonserve im Laden kaufen. Wenn wir der Botschaft der Berliner Funkausstellung dieses Jahres folgen, dann haben wir in einigen Jahren das volldigitalisierte Heim mit unerhörtem und ungesehenem Hör- und Sehgenuss auf Knopfdruck direkt aus dem Internet oder von der BluRay-Disk oder HD-DVD als Dauerberieselung, beschallt mit HiFi Surround Sound und leistungsstarkem Subwoofer. Das wird den Trend zu weniger Kammermusikkonzertbesuchern nicht umkehren. Will sagen: Vor 50 Jahren gab es ein gutes Dutzend sehr guter Kammermusikformationen, die die Kammermusiksäle der Welt füllten. Heute gibt es Hunderte gleich guter oder besserer Gruppen, die um die Gunst der „Hörelite“ der Kulturländer buhlen, in denen die Bevölkerung nicht wächst. Dazu hat diese Hörelite durch neue Medien mehr Möglichkeiten, Kammermusik zu hören. Es sitzt also nicht die Kammermusik zwischen den Stühlen, sondern der Kammermusiker hat ein doppeltes Konkurrenzproblem, das zu lösen in den Bereich des Marketing fällt. Und da heißt es : Marktforschung, Konkurrenzanalyse, Stärken- Schwächenanalyse, Strategieentwicklung, Absatz- und Umsatzplan, Finanzierungsplan, Marketingstrategie, Herausarbeiten der Stärken, Beseitigung der Schwächen. Am Ende wird der Erfolg nicht ausbleiben. „Was hat das alles mit Musik zu tun?“, werden Sie fragen. Nun, künstlerischer Erfolg ohne kommerziellen Erfolg ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Stellen Sie sich vor: Sie spielen ein himmlisches Schubert-Oktett und keiner geht hin.
Dr. Harald Siegers
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Leider ja. Solange jedenfalls, wie eine Zivilgesellschaft den Verdummungsterror der Medien und planmäßige Verrohung durch Schule und Straße duldet. Die Grundlage aller Musik ist Singen und Kammermusik – im Wechsel, gleichzeitig, egal wie. Ohne dieses wird es keine Musik mehr geben. Zunehmend wird es deshalb die Aufgabe der ausübenden Musiker sein, sich gegen eine kommerziell definierte Umwelt zu engagieren und auf den immer größer werdenden Verlust von geistigen und manuellen Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Radikale Forderungen müssen gestellt werden: Fernseher, Video, DVD, Gameboys, Computerspiele etc. raus aus jeder Wohnung – dafür mindestens drei Instrumente, welche auch immer, hinein. Jeden Musikunterricht kostenlos erteilen. Jede Schule bestreiken, die keine musischen Fächer unterrichtet. Jedem Politiker die Fenster einwerfen, der sich für Kürzungen im Kulturetat ausspricht. Jeder, der etwas für die Kammermusik tut, wie „kammermusik heute e.V.“, ist bereits eine Kampfzelle gegen Dummheit und Ignoranz: deshalb meine herzlichste Gratulation zum Geburtstag. Unbedingt weitermachen! Nicht lockerlassen! Denn es geht um alles.
Detlev Glanert ( Komponist )
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Hinweise zu den Ungarischen Tänzen von Brahms in der Wiener Urtext Edition. Unter dem Begriff Kammermusik verstehen Pianisten, anders als die meisten Instrumentalisten, eine Besetzung schon ab zwei Instrumenten. Es bietet sich somit ein fast unübersehbar breites Repertoire an, das vom Duo bis zu Besetzungen reicht, wie man sie z. B. in Schönbergs Pierrot Lunaire oder Hindemiths Kammermusik Nr. 2 für obligates Klavier und 12 Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1 findet. Wer je derartig konzertante Werke gespielt hat, kennt nicht nur deren technische Ansprüche, sondern weiß auch um die Freude, die aus der Interpretation solcher Musik entstehen kann, besonders, wenn ein kompetenter Dirigent das Ensemble leitet. Es ist nicht einzusehen, warum junge Instrumentalisten, besonders aber Pianisten, von ihren Lehrern oft fast einseitig in Hinsicht auf Sololiteratur ausgebildet werden. Professoren für Kammermusik können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, Unterstützung bei der Bildung von Kammermusik-Ensembles zu erhalten, - noch prekärer ist die Lage für Dirigenten von Hochschulorchestern; beide Berufsgruppen können wenig erfreuliche Geschichten aus ihrer Praxis erzählen, sitzen sie doch oft gleichsam zwischen allen Stühlen. Für Pianisten bildet das Spiel an zwei Klavieren bzw. das vierhändige Spiel an einem Instrument eine der schwierigsten Aufgaben im Bereich Kammermusik. - In vierhändiger Klaviermusik haben vor allem Mozart und Schubert ein Niveau vorgegeben, das nach ihnen nur schwer wieder erreicht werden konnte. In der Folgezeit war vor allem Brahms der Meister, der auf diesem Sektor sowohl in Originalwerken als in Bearbeitungen Wunderbares schuf. Zu seinen beliebtesten Arbeiten zählen die Ungarischen Tänze, deren vierhändige Fassung mit seiner Beziehung zu Clara Schumann verknüpft ist. Schon 1868 schrieb sie in einer Tagebuchnotiz über ein Konzert in Oldenburg: Heute Abend war Gesellschaft bei Herrn von Bolieu, wo wir, Johannes und ich, die wundervollen ungarischen Tänze spielten und mit Lorbeeren und Toasten gefeiert wurden. Einige Wochen später schrieb Brahms an seinen Verleger Simrock: Es sind übrigens echte Pußta und Zigeunerkinder. Also nicht von mir gezeugt, sondern nur mit Milch und Brot aufgezogen... Dementsprechend korrekt annoncierte Brahms die Stücke, als er im Titel schrieb ... gesetzt von Johannes Brahms; zudem hat er sie, wie alle anderen Bearbeitungen, nicht mit Opuszahlen versehen. Bei der Wiener Urtext Edition erschienen die Ungarischen Tänze im Jahre 2002 in zweihändiger und vierhändiger Version, nach den Quellen herausgegeben von Ernst Herrttrich / Fingersätze und Hinweise zur Interpretation von Peter Roggenkamp. In der vierhändigen Fassung wurden die beiden Klavierparts, anders als es in vierhändiger Musik üblich ist, übereinander gedruckt. In den Hinweisen zur Interpretation schrieb P. R. u. a.: Im Autograph der beiden ersten Hefte - das Autograph der später erschienenen Hefte III und IV ist verschollen - hat Brahms Primo und Secondo in Partiturform untereinander geschrieben. Damit hat er der Tatsache Rechnung getragen, dass die beiden gleichberechtigten Klavierparts so eng aufeinander bezogen sind, dass jeder Spieler die gesamte Partitur studieren und verinnerlichen muss. Die vorliegende Ausgabe übernimmt diese Notation, die nicht der heute im Notendruck üblichen Praxis entspricht. Die Partiturform offeriert einen Weg zu einem durchdachten Verständnis des Notentextes; sie bietet zugleich den Vorteil, dass die Spieler sich sehr gut verständigen können. Kammermusik zwischen den Stühlen wird durch diese Konstellation erleichtert; zudem wird jeder Spieler in sinnvoller Weise zur Verinnerlichung beider Parts geführt. Der Notendruck in Partiturform sollte endlich Schule machen.Brahms verlangt in einigen Stücken, dass die rechte Hand des Secondo-Spielers zeitweilig in höherer Tonlage spielt als die linke Hand des Primo-Spielers. Diese vom Komponisten aus musikalischen Gründen gewollte Verschränkung muss beibehalten werden. Die Verteilung, die ein Ineinandergreifen der Hände bedingt, ist durch die Zusammengehörigkeit der Stimmen und durch die unterschiedlichen Fähigkeiten von rechter und linker Hand begründet; sie bereitet den Interpreten keine zusätzlichen Schwierigkeiten. (P. R. in der Ausgabe der Wiener Urtext Edition) Ob Brahms bei der Verschränkung der Hände auch an seine Zusammenarbeit mit der befreundeten Clara Schumann dachte, wissen wir nicht. Sie war eine der wichtigsten Musikerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, und hatte die Ungarischen Tänze schon in frühen Stadien ihrer Entstehung kennengelernt. Vor der Drucklegung der vierhändigen Version probierten beide die Tänze noch einmal gründlich. Die Ungarischen Tänze waren bald ein Publikumserfolg. Elisabet von Herzogenberg verlieh 1880, nach Erscheinen der Hefte drei und vier, ihren Gedanken mit den folgenden Worten Ausdruck:... Sie haben für so viele dieser Melodien das letzte erlösende Wort gesprochen, das ihnen erst zur vollen Entfaltung und Freiheit verhalf. Was mir aber am meisten an Ihrer Leistung imponiert, ist, daß Sie alles das, mehr oder weniger, doch nur Elemente der Schönheit in sich Bergende, zu einem Kunstwerk und in die reinste Atmosphäre emporhoben, ohne daß es im mindesten von seiner Wildheit, von seiner elementaren Gewalt einbüßte.
Prof. Peter Roggenkamp ( Pianist, Musikhochschule Lübeck )
 

KAMMERMUSIK ZWISCHEN DEN STÜHLEN?
Ich gratuliere dem Verein kammermusik heute e.V. herzlichst zum 5. Jubiläumsjahr!
In Zeiten wirtschaftlich knapper Kassen ist in besonderem Maße die Kultur von Einsparungen betroffen; im Bereich der klassischen Musik ist der Sparzwang vom Sinfonieorchester über Kammerensembles jeder Größe bis hin zum Solisten für alle Ausübenden und Veranstaltenden mehr als deutlich spürbar. Nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht wird dadurch die Kammermusik, die in ihrer Intimität und Ästhetik mit Sicherheit zur intensivsten Form der musikalischen Kommunikation gehört, u. U. in der Zukunft einen neuen Stellenwert erhalten: wo bisher Kammerorchester engagiert wurden, ist im Interesse der Kammermusik nun zu hoffen, dass das Augenmerk verstärkt auf kleinere Gruppierungen gerichtet wird. Es finden sich hier in ganz besonderem Maße immer mehr Besonderheiten und Raritäten in Besetzung, Repertoire und Ensemblevielfalt. Kammermusik zu machen, hat für die Initiatoren und Beteiligten schon immer ein hohes Maß an Engagement bedeutet – dieses wird sich sicher auch in Zukunft nicht ändern, es ist aber zu hoffen und zeichnet sich ab, dass durch Initiativen wie der KammermusikOffensive in Hamburg im Herbst 2004 oder durch die Arbeit des Vereins kammermusik heute e.V. diese wunderbare Gattung des musikalischen Kommunizierens für eine breitere Öffentlichkeit in ein strahlenderes Licht gerückt wird. Dem Verein kammermusik heute ist nicht nur unter diesen Aspekten, sondern vor allem in Hinblick auf die gesamte Pflege der Kammermusik und insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten alles erdenklich Gute zu wünschen!
Imme-Jeanne Klett ( Flötistin, Hochschule für Musik und Theater Hamburg )
 

BEMERKENSWERTE MUSIKER- ERLEBNISSE ZWISCHEN KIEL UND CHUR
Ein Rückblick in Form zweier Anekdoten
Fünf Jahre kammermusik heute e.V. sind auch fünf Jahre ensemble acht-Geschichte. Denn das ensemble acht ist das Ensemble-in-Residence des Vereins und hat die meisten Uraufführungen der letzten fünf Jahre anvertraut bekommen. Ein Rückblick bietet sich an dieser Stelle an. Besser gesagt ein Einblick, denn das große Buch der mittlerweile 14-jährigen ensemble acht - Geschichte soll hier nicht aufgeblättert werden. Ein Einblick, der den Bezug sucht auf die Intentionen des Vereins einerseits und auf das Thema „Kammermusik zwischen den Stühlen“ andererseits. Dies sei versucht mit zwei wahren Begebenheiten aus der ensemble acht - Historie. Die erste Geschichte berichtet von der Lust und dem großen Spaß, den eine eigentlich sehr ernsthafte Auftragskomposition den Interpreten bieten kann. Ganz anders vom Frust der Musiker zwischen Wunsch und Realität, zwischen Anspruch und Wirklichkeit - von Kammermusik zwischen den Stühlen also – berichtet die zweite Geschichte.
STÜHLE ZWISCHEN STEINERN UND VERWEHEND
Der erste Komponist, der für das ensemble acht geschrieben hat, ist Detlev Glanert. Seine „Chaconne“ ist ein Stück, das wir oft und gern gespielt haben und das seinen Weg auch in das Repertoire anderer Gruppen gefunden hat. Detlev hat den Musikern Spielanweisungen wie steinern, verwehend oder rituell in die Partitur geschrieben. Um das nun Folgende verstehen zu können, muss man wissen, dass das ensemble acht eine Gruppe zwar seriöser, aber alles andere als bierernster Musiker ist. Und natürlich kam es in den Proben sehr bald zu einem Wettstreit um die originellste und abgedrehteste Interpretation dieser Spielanweisungen. Unvergessen wie Guido während der Rituell-Passage unvermittelt aufstand und fröhlich weiterspielend in Buschmannmanier einen Regentanz um das Ensemble watschelte. Die Probe war damit beendet. Der eigentliche Knackpunkt aber ist der Beginn des Stückes. Es gibt eine Art langsame Einleitung, die nur aus geräuschartigen kleinen Klangereignissen besteht, die durch lange Pausen voneinander getrennt sind. Horror vacui – was kann alles passieren, wenn man gedanklich abschweift, oder gar irgendetwas Unvorhergesehenes passiert ! Als wir in die Uraufführung gingen, waren wir nach den unglaublich unterhaltsamen Proben bis zum Platzen mit lustigen Erlebnissen und Albernheiten angefüllt. Und es kam, was kommen musste: Detlevs langsame Einleitung bekam ein ganz neues Gesicht. Ein Pieps in der Klarinette, ein Schröchchch vom Horn, ein Packkkkkh der Bratsche, ein Hauuuuuch vom Kontrabass - soweit noch alles nach Plan. Totenstille im Publikum, Totenstille bei uns. Und dann, mitten in einer dieser nicht enden wollenden Generalpausen knarrrrrrzt Christophs Stuhl !! Es passte ja eigentlich gar nicht so schlecht rein.....aber jeder von uns hatte blitzartig vor Augen: Entweder wir reißen uns sofort und zwar fürchterlich zusammen, oder wir brechen vor ausverkauftem Haus in einen noch nicht da gewesenen öffentlichen Lachkrampf aus. Auf der Bühne konnte man den gewaltigen Ruck spüren, der durch acht Menschen gleichzeitig ging: Körper wurden steif, Blicke starr in die Noten gerichtet. Bloß niemanden angucken, bloß keine Spur eines Grinsens aufschnappen, irgendwie an etwas furchtbar Trauriges denken !! Es ist dann noch einmal gut gegangen und wurde ein prima Konzert. Aber wenn wir heute die Chaconne proben, merkt man, dass dieser Stuhlknarzer sich in geradezu respektloser Weise irgendwie in Detlevs Komposition hat Einlass verschaffen können.
Und man darf sicher sein: es knarrrzt nicht nur ein Stuhl .......
KAMMERMUSIK ZWISCHEN ROKOKOGESTÜHL UND BIERZELTGARNITUR
Ziemlich am Anfang der ensemble acht - Geschichte führte uns eine Konzertreise nach Regensburg. Wir spielten dort im Innenhof eines Palais. Ein Hochsommer open-air Konzert im Edel-Ambiente. Ein herrlich warmer, lauschiger Sommerabend, serenadenhafte Stimmung. Das Konzert war ausverkauft, das Publikum interessiert und begeistert. Ein Freudenfest für jeden Musiker. Und genauso sollte es weitergehen, denn am nächsten Abend stand wieder ein Konzert in einem Innenhof auf dem Programm !! Denkwürdig, welch ein Absturz nun folgte! Denn als wir in Roding ankamen, gab es zwar einen Innenhof, aber nicht das erwartete dazugehörige Palais. Stattdessen fanden wir uns in einem kleinstädtischen Einkaufszentrum mit dem gnadenlosen Charme der 70-er Jahre wieder. Der freundliche Veranstalter hatte für seine Gäste bereits eingedeckt: Auf Reihen von Bierzeltgarnituren mit den unvermeidlich rot-weiss karierten Tischdecken standen Bierhumpen und Schoppenweingläser (groß). In einer Ecke des Hofes war eine Bude, in der jede Menge Bocksbeutel und andere Flaschen auch hochgeistiger Getränke auf Leerung warteten. Wer in fernerer Vergangenheit Probleme mit dem Ausknopf der TV-Fernbedienung hatte, mag sich in die Kulissen des „Blauen Bock“ versetzt gefühlt haben. Entgleisende Gesichtszüge bei allen Kollegen. Da stimmt doch irgendetwas nicht. Rechnen die Leute wirklich mit uns ? Wissen die, dass heute Abend Mozart und Schubert gegeben wird ? Uns war klar, hier würde getrunken und geplaudert werden, während wir sensibelst die letzten unergründeten Winkel Mozartscher und Schubertscher Partituren ausleuchten wollten. Eine fürwahr grauenvolle Vorstellung und eine fürchterliche Schmach !! Wir beschlossen „flach“, das heißt ohne die vom Komponisten vorgesehenen Wiederholungen zu spielen, um uns dann alsbald vom Innenhofe zu machen. Wie sich aber im Laufe des Abends herausstellte, waren die Konzertbesucher gar nicht das Problem. Eigentlich waren die sogar sehr nett, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand während unseres Vortrages verstohlen an seinem Weinglas zu nippen gewagt hätte. Wäre auch nicht wirklich schlimm gewesen im Vergleich zu dem, was dann geschah ! Den Innenhof säumte nämlich eine Ladenzeile, in der ausgerechnet auch eine Zoohandlung ihre Bleibe gefunden hatte. Eines der zahllosen Tiere, die dort mit ihrem Schicksal haderten, war ein großer, bunter, struppiger Papagei. Und wie um diesem Konzertereignis die Krone aufzusetzen, hatte der fürsorgliche Zoohändler beschlossen, seinen Schützlingen heute Abend ein wenig Frischluft zu gönnen. Er hatte doch tatsächlich alle Oberfenster seines Ladens aufgeklappt! Dem Federvieh war nun Tür und Tor geöffnet, sich Gehör zu verschaffen und statt unser das Publikum zu erobern. Und er tat dies. Und es war ihm offenbar eine Herzensangelegenheit, sich als gnadenloser Verächter klassischer Musik zu outen. Wir hatten kaum mit Mozarts Klarinettenquintett begonnen, da krächzte er auch schon unüberhörbar in die skurrile Szenerie: „Auuuufhören....auuuuufhören.....!“ Der Abend endete dann für das Ensemble dort, wo er in gewisser Weise ja schon begonnen hatte: Am Biertisch. Und der Anstand gebietet es, über den weiteren Verlauf dieses Abends Stillschweigen zu bewahren.
Ingo Zander ( Cellist, Philharmonisches Orchester Kiel )
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