Jan Müller-Wieland


Jan Müller-Wieland
– Composer-in-Residence 2012/13 des Vereins kammermusik heute e.V. –

In seinem Gründungsjahr 2000 hat der Verein kammermusik heute e.V. seinen ersten Kompositionsauftrag an Jan Müller-Wieland vergeben. Nach zwölf Jahren stehen jetzt mehrere seiner Kompositionen im Mittelpunkt der Kammerkonzerte 2012/13 im Weißen Saal des Jenisch Hauses. Stefan Schäfer befragte den Komponisten.

Stefan Schäfer: Inzwischen bist Du Professor für Komposition an der Musikhochschule München, trittst daneben aber auch als Dirigent in Erscheinung. In wieweit befruchten diese Tätigkeiten das eigene Komponieren?

Jan Müller-Wieland: Das Arbeiten mit Kompositionsstudenten bereitet mir große Freude. Eine neue Vielfalt entwickelt sich da in den kommenden Komponistengenerationen, die ich mit Engagement begleite. Mein Dirigieren, zum Beispiel zukünftig bei den Münchner Philharmonikern, zielt ganz unmittelbar auf mein Seelenleben und dessen Vorraussetzungen durch Klang. Beide Tätigkeiten wollen allerdings nur das Eine: Unbedingt in der Musik sein. Im Klang. Dann ist man in einer anderen Existenz. Mit je eigenen Gesetzen, Zonen, Zäunen und Horizonten.

Mit ca. achtzig Werken nimmt die Kammermusik den vielleicht zentralen Platz in Deinem Oeuvre ein. Ist das Zufall oder ganz bewusst zu Deinem Lieblingsgenre geworden?

Für meinen musikalischen Verstand ist Kammermusik tatsächlich zentraler Bestandteil. Die Bratschensonate von Schostakowitsch. Die Cellosonate von Debussy. Das dritte Streichquartett von Britten. Kagels zweites Klaviertrio! Damit könnte ich mein ganzes Leben verbringen. Dieser Tage unterrichte ich meist aus dem Klavierauszug der Matthäus-Passion, als ob es Kammermusik wäre, was an der Intimität und der Innigkeit dieses Meisterwerkes liegt.

Wie wichtig ist es für einen Komponisten, konkret für bestimmte Interpreten zu schreiben?

Es ist halt alles wie im Theater. Nur mit Noten. (lacht) Die Interpreten sind die Schauspieler. Die Partitur das Textbuch eines Theaterstücks. Denken Sie an "Ritter, Dene, Voss" von Thomas Bernhard. Alles Schauspielernamen. Tolle Schauspieler stimulieren das Erfinden von Figuren und Dramen. Genauso ist es in der Musik mit den Interpreten und den Komponisten.

Ist es z.B. hilfreich, wie im Falle der neuesten Komposition, wieder für die „vertrauten Musiker“ des Ensemble Acht zu komponieren?

Natürlich! Nur: Ihr verändert Euch und ich mich auch. Unsre Körper verändern sich. Mein Sinn für musikalische Zusammenhänge, für dramaturgische Bögen hat sich durch den Körper, Lebens- und Berufserfahrungen verändert. Beispielsweise geht meine Musik jetzt effizienter und ökonomischer mit Klang um. Und Ihr spielt Eure Instrumente auch anders als vor circa zehn Jahren. Nicht besser oder schlechter, aber anders. Ich wette, Ihr phrasiert zum Beispiel jetzt anders und es wirkt anders.

In vier Doppelkonzerten steht jeweils eines Deiner Werke im Mittelpunkt der Konzertprogramme. Deine neueste Komposition ist für Fagott, Violine, Viola und Violoncello. Was stellt den besonderen Reiz dar, das sonst eher weniger solistische Instrument Fagott in den Vordergrund zu rücken? Was verbirgt sich hinter dem Titel „Lockgesang“?

Das Singen auf Instrumenten heutzutage. Der Gesang. Das Locken. Der Lockvogel. Auch der Lockvogel Ensemble-Acht! Dann interessiert mich konkret der famose Fagottist Christian Kunert. Streichtrio, Streichquartett usw. - diese klassischen Besetzungen der Kammermusik faszinieren mich. Ich dachte Fagott und ein Streichtrio. Ich dachte eins und drei. Nicht vier. Das Fagott als eine Art Held und das Streichtrio als eine Art Welt. So simpel und grundsätzlich geht es erstmal los im Kopf.

Deine „Vagabondage“ für Oktett ist eine Wandererfantasie, aber auch eine Art von Humoresque. Die Bläser stehen am Ende des Stücks verfrüht auf. Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass das Ganze eine Szenerie ist. Ist das Deine Form von„imaginären Musiktheater“, wie sie Dein Lehrer Hans Werner Henze geprägt hat?

Das mit dem Aufstehen ist vielleicht nur das I-Tüpfelchen daran. Die Essenz des Begriffs "imaginäres Musiktheater" meint, frei nach Leonardo da Vinci, dass die Musik eine darstellende Kunst ist. Allerdings eine absonderliche, denn sie stellt dar, was wir nicht sehen können und worüber wir nicht sprechen können, wofür wir also keine rechten Worte haben. So sinngemäß meinte es Leonardo.

Viele Deiner Kompositionen haben literarische Vorlagen. In Deinem 3.Streichquartett, das im November 2012 in Kassel uraufgeführt wird, gibt es aber Assoziationen zu einem Film von Lars von Trier. Was bedeutet „Zweiter Mond“?

Lars von Trier umtreibt mich und provoziert mein Unterbewusstsein. In seinem Film "Melancholia" taucht ein zweiter Mond bzw. ein zweiter Planet auf, welcher schließlich die Erde wegrammt. Die Musik im Film besteht ausschließlich aus Wagners Vorspiel zu "Tristan und Isolde". Das ist alles so hemmungslos und nackt und aufeinanderprallend. Entweder man hasst es - oder man ist überwältigt. Das Letztere war bei mir der Fall. Mein 3. Streichquartett arbeitet das auf. Circa 40 Minuten lang in einem Satz. Der Lockgesang ist womöglich - ich habs ja noch nicht gehört - eine Art Epilog auf das 3. Streichquartett, da auch in diesem Stück ein dreiakkordiges Leitmotiv erscheint. Es ist aber ein Leitmotiv von mir. Nicht von Wagner. Jedoch hat Wagners kalkuliertes, dramatisches Denken mich auf abstraktem Wege beeinflusst.

Die Sonate für Flöte, Harfe und drei Streicher stammt aus dem Jahre 1994. Diese Quintettbesetzung hatte ihre Blütezeit im französischen Impressionismus. Nach den Satzbezeichnungen (Anrufend - Leicht und lebhaft – Beschwingt) zu urteilen, könnte es Querverbindungen geben? Wie wichtig war – und ist - dabei die immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Sonatenform?

Die ist elementar bis heute. Hegel, Hegel und nochmal Hegel. Ich komm davon nicht weg. Und Beethoven natürlich! Thema. Gegenthema. These. Antithese. Goethe. Faust. Mephisto. Alles ringt miteinander. Braucht einander aber auch. Der Mephisto im Faust ist meines Erachtens ja in Faust selbst. Er ist sein Unter-Ich, sein Über-Ich, sein innerer Schweinehund. Eigentlich sind Faust und Mephisto EINE Rolle und nicht zwei. So ist es in der Hammerklaviersonate oder der großen Fuge auch. Alle Konfrontationen bilden Fallhöhen gegeneinander. Sie erzeugen - als Synthese - Sturm und Drang, Abrücken und Fliehen oder Liebe und Sehnsucht und deren Übergänge, Zwischentöne und Bereiche. Ich denke dauernd über Gegensätze nach. Über innere Widersprüche. Die Widersprüche bilden das Dasein. Das Anwesendsein. Die Anwesenheit einer Idee! Widersprüche erzeugen auch das Groteske. Denken Sie an Mahler. Unglaublich! Querverbindungen zum Impressionismus gibt es im Detail. Jeder Klang wird auf seine Farblichkeit, auf seine prismatische Vielschichtigkeit abgehört. In meinem Fall am Klavier übrigens. Nicht am Computer oder so.

Im Jahre 2000 hast Du den ersten Kompositionsauftrag des Vereins kammermusik heute e.V. erhalten. Danach bist Du Ehrenmitglied des Vereins geworden und konntest die weitere Entwicklung – mittlerweile über zwölf Jahre – beobachten und miterleben. In einem Interview (impulse-Ausgabe 1- Oktober 2001) hattest Du prognostiziert, „es würde sich für alle lohnen, wenn wir Geduld haben“. Wie beurteilst Du – als Zwischenbilanz - die Aktivitäten von kammermusik heute e.V. ?

Hamburg hat durch Euch ein pikantes Juwel mehr. Fein ist zudem: Ihr versteht Euch alle so gut. So was teilt sich beim Musizieren mit und auf der Bühne. Wenn es menschlich funktioniert, ist der künstlerische Erfolg auch nicht weit. Das kann man an Euch und dem Verein gut erkennen.

Du bist in Hamburg aufgewachsen, hast lange in Berlin gelebt – jetzt in München. Wie siehst Du die Hamburger Musikszene in Bezug auf neue Musik? Hat z.B. die im Bau befindliche Elbphilharmonie bereits Impulse für eine „Musikstadt Hamburg“ setzen können?

Ich versuche mir die Baustelle immer anzusehen, wenn ich in Hamburg bin und bin stets begeistert. Zum Thema Baustreitigkeiten, Kosten und Zeitpläne aus meiner Sicht nur dies als kleiner Vergleich: Der Bau der Türme vom Kölner Dom hat achtzig Jahre gedauert. Heine hat nie den vollendeten Kölner Dom gesehen. Das Bedeutsamste ist, dass als größtes Leuchtsignal des Hafens für alle Schiffe, Strömungen und Ufer ein Musikzeichen zu sehen sein wird: Kommt her! Nehmt Platz! Hier ist kein Wind! Hier ist es warm! Viele Menschen werden so vielleicht auch zum ersten Mal in Hamburg erkennen können, dass Hamburg nicht nur Hafen, sondern auch Musik und der Hafen ein Musikhafen ist und zwar dann der dollste der Welt. Die Sache wird ein großer Erfolg, aber man braucht dabei Drahtseilnerven oder Seemannsnerven oder wie sagt man da. Städte vergleichen tue ich ungern. Jede Stadt für sich ist ein Phänomen und die neue Musik hat es überall schwer, da sie nicht primär massentauglich ist. Dafür bildet sie aber die Grundlagen für musikalische Fantasie und Geistigkeit in dieser taumelnden, globalisierten Zeit bzw. trotz dieser globalisierten Zeit.

Jan Müller-Wieland – Anmerkungen zu Person und Werk

„Mich interessiert Musik, die durch den Rückblick vorausschaut. Zukunft ohne Vergangenheit ist für mich unvorstellbar.“ Dieses Motto stammt von Jan Müller-Wieland (*1966), dem Composer-in-Residence der Saison 2012/13 von kammermusik heute e.V. Der Vorstand des Vereins freut sich, vier seiner Kompositionen in vier Doppelkonzerten im Weißen Saal des Jenisch Hauses präsentieren zu dürfen.

Jan Müller-Wieland wurde 1966 in Hamburg geboren, studierte an der Musikhochschule Lübeck Komposition bei Friedhelm Döhl, Kontrabass bei Willi Beyer und Dirigieren bei Günther Behrens. Weitere Kompositionsstudien erfolgten bei Hans Werner Henze in Köln. Seit 1993 lebte er zunächst als freischaffender Komponist in Berlin. Neben dem Paul-Hindemith-Preis 1993 erhielt er zahlreiche weitere Preise sowie Stipendien in Frankreich, Italien und den USA. Seit 2003 ist er Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg. Seit 2007 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik München. Müller-Wieland war unter anderem Composer-in-Residence beim Menuhin-Festival in Gstaad (2001), beim Tschaikowsky-Sinfonie-Orchester in Moskau (2004) und beim Beaux-Art-Trio in den USA (2005).

Peter Becker, Prof. em. der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, schreibt über ihn: „Er ist einer von denen, die der verlockenden postmodernen Formel „Anything goes“ die knappe Zeitdiagnose „Alles im Fluss“ entgegenhalten und zur Devise ihres künstlerischen Schaffens gemacht haben. Diese Metapher verweist auf eine musikalische Poetik, die sich zur Geschichtlichkeit von Kunst, das heißt zu ihrer Herkunft und zu ihrer Bedeutung für die Zukunft bekennt."

Der Geiger Daniel Hope merkt anlässlich der Uraufführung des Müller-Wieland´schen Violinkonzertes 2002 an: "He has that rare blend of lyricism, fantasy and technical accomplishment that performers look for in the new music. He has achieved his very own style of writing, and in my opinion, his voice is amongst the leaders of a major new generation in German new music."

Neben ca. 80 kammermusikalischen Werken hat Müller-Wieland 17 Solowerke, 9 Orchesterwerke und 9 Opern komponiert. Ein vollständiges Werkverzeichnis von Jan Müller-Wieland findet sich unter www.sikorski.de.

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