Johannes Brahms


Reflexionen über Brahms

In Annäherung an das Thema von Johannes Brahms aus dem 4. Satz der 1. Sinfonie haben acht Hamburger Komponisten im Auftrage des Vereins kammermusik heute e.V. neue Werke geschrieben:

Arun dev Gauri (*1976) - 40-41 für Oktett (2010/11)

Dieter Einfeldt (*1935) - Retro - Erinnerungen an Johannes Brahms für Oktett (2010)

Peter Michael Hamel (*1947) - Brahms In C für Oktett (2010)

Thomas Jahn (*1940) - Nachtmusik für Klarinette, Horn, Viola, Violoncello und Kontrabass (2010)

René Mense (*1969) - Fantasie über eine Hymne von Brahms für Oktett (2010)

Ruta Paidere (*1977) - N.N.

Stephan Peiffer (*1985) - Drei Quintettsätze für Klarinette, Horn, Violine, Viola und Violoncello (2011)

Stefan Schäfer (*1963) - Nordisch Nobel für Horn, zwei Violinen, Viola und Violoncello (2011/12)


Aus Anlass der Uraufführung am 27. und 28. April 2012 im Hamburger Jenisch Haus mit dem ensemble acht haben Bernhard Asche und Prof. Dr. Hans Ulrich Schmidt den beteiligten Komponisten Fragen gestellt, um Einblicke in deren neuen Kompositionen zu erhalten.

1) Welche Art der Auseinandersetzung mit dem Thema haben Sie gewählt / gefunden?
2) Wie haben Sie die Idee der Annäherung an das Thema musikalisch umgesetzt?

      Arun dev Gauri mit Ingo Zander


Arun dev Gauri
40 - 41 für Oktett (2010/11)

"Johnny, mach mir ´ne Hymne." und Johnny macht. Macht er vor allem gut.
Was soll Ich da noch? Könnt ihn fragen:
"Hey, Johnny, hast` bei Ludwig geklaut, oder?". Bringt nicht wirklich weiter; vielleicht auch
"Wie viele Takte geht das hier und da und so oder so?"
Ja, so könnt´s gehen. Toll. Aber warte ´mal, "Johnny, weißt Du, dass Dein Lied jeden Abend durch die Guckröhre klingt, ein klasse Jingle, wirklich."
Würde er sich empören? Ich glaube, eher erröten und mit Genugtuung denken:
"Ich wusste, das hat Bringerqualitäten "
Wusste er.
Aber, ehrlich, das ist nicht mehr dein Lied. Die Geschichte hast DU ganz anders erzählt, ich meine die ganzen 4041 Minuten davor. Wie konnte es dazu kommen? Davor, ja nur eine kleine Ewigkeit davor, ist noch alles anders: Sturm, Unklarheit, immer - woanders - sein, nicht - Ankommen. Wird das Liedchen nicht jetzt erst herrlich schön? Ach, wie wunderbar, endlich da zu sein!
Der Schluss der Odyssee, melodietrunken, das Bekenntnis zum Hier sein, ein Ja.
Blumenwiese nach Störfall. Da bleibt schon etwas zurück.
So wie 41 nach 40.
heißt: Hinübergegangen zu sein.
Erst lausiges, dann leisiges Getöse
mikrostehenbleibende Inseln - bitte!!
Einvernehmende Ruhe im Zartbittermanntel
spiralierende Weiterwellen
(ja, auch grellende Heiterstellen)
weiter, weiter, weiter, weiter schwellen
und aufhellen, doch, ja, ja, ja
Abebben mit Sternfunkeln
unClara Nachthimmel
einvernehml. Stille.
Warmer Regen.

     Dieter Einfeldt


Dieter Einfeldt
Retro - Erinnerungen an Johannes Brahms für Oktett (2010)

1) Dieter Einfeldt (1936): Retro (2010) für Kammerensemble nach zwei Motiven aus der Symphonie Nr. I, c-moll, op 68 von Johannes Brahms.
RETRO bedeutet hier Rückblick auf ein populäres Werk aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.

2) Das erste, unsicher tastende Motiv stammt aus der Introduktion zum Finale der Brahms-Sinfonie (ab Takt 6), das seinerseits bereits der Reflex auf ein ebenfalls pizzicato gespieltes Motiv aus der "Faust-Sinfonie" (1854/57), auch in c-moll, von Franz Liszt ist, und hier bis zum völligen Verstummen geführt wird.
Das bekannte, melodiöse Hauptthema des Finales der Brahms-Sinfonie wird quasi "nostalgisch verfremdet" und von seinem Grundausdruck allmählich in neuere Bereiche weg- und weitergeführt.

      Peter Michael Hamel


Peter Michael Hamel
Brahms In C für Oktett (2010)

1) BRAHMS IN C - Um das überaus bekannte Thema neu erlebbar zu machen, es für den Hörer zu dekonditionieren, wurde eine Art Zeitlupen-Vorgang in Form von additiv sich entfaltender Patterns entwickelt, in ein repetitiv-ostinates Kontinuum getaucht. 1 12 123 1234 12345.

2) BRAHMS IN C - entstanden 2010 für meinen Freund Terry Riley, den eigentlichen Erfinder der sogenannten Minimal Music, zu seinem 75.Geburtstag und komponiert für das Brahms-Projekt des Ensembles 8, gesetzt in der klassischen Oktett-Besetzung.

      Thomas Jahn


Thomas Jahn
Nachtmusik für Klarinette, Horn, Viola, Violoncello und Kontrabass (2010)

1) Am Anfang Ratlosigkeit.
Zum musikalischen Thema immer wieder das Brahms'sche Bonmot "Leider nicht von mir", welches er in ein Gästebuch eintrug, nachdem er die ersten Takte des Kaiserwalzers notiert hatte. Dann aber folgt - schwer, eigentlich unmöglich zu beschreiben - eine Auseinandersetzung mit mir selbst beim Hören des Themas. Also die wirkliche Reflexion, die, völlig ungeordnet, auf einer Serie von Reflexen fußt.

2) Ich zitiere den Dominantseptimenakkord vor dem Thema. Wie ein Vorhang, der langsam geöffnet wird. Es ist Nacht. Es erklingt Musik: Klarinette, Horn, Bratsche, Cello, Kontrabass. Musik zur Nacht, zu meiner Nacht. Und hier ist Brahms mit seiner formalen Disziplin hilfreich, immer noch richtungsweisend. Die Serie von Reflexen werden gebündelt, organisiert, nehmen Gestalt an und werden musikalische Narration.

      René Mense und Christoph Moinian


René Mense
Fantasie über eine Hymne von Brahms für Oktett (2010)

1) Ich habe mich dem Allegro-Thema aus dem Finale der 1. Sinfonie von Brahms auf dem Wege der Verfremdung genähert, wodurch eine gewisse Distanz dem Original gegenüber zum Ausdruck kommt. Dabei wurde ich von der Idee geleitet, dass Brahms, der seine 1. Sinfonie im Riesenschatten Beethovens ja bekanntlich unter Mühen und Schmerzen schrieb, vielleicht gerade an der Erfindung des "satt-affirmativen" Finalthemas zuweilen verzweifelte und es möglicherweise auch mal verfluchte, was man dem endgültigen Resultat allerdings nicht anhört. Ich habe mir wenigstens einen mit erregter Fistelstimme vor Wut schnaubenden Brahms vorgestellt, was ich sehr erheiternd fand.

2) Die erste Phrase dieses Themas erscheint an verschiedenen Stellen meiner Partitur in stark vom Original abweichendem Charakter. Die Töne sind dabei meistens in mehr als eine Oktave höhere oder tiefere Lagen versetzt, wodurch der melodische Zusammenhang nahezu unkenntlich ist. Auf diese Weise konnte ich den Grundriss der Melodie in ein klangliches Geschehen übertragen, das nicht der traditionellen Schichtung des vierstimmigen Satzes entspricht, sondern jedem Instrument - abhängig von seinem Tonumfang - erlaubt, den Klangraum vielfältig zu bespielen.
Zu Beginn des Stücks ist ein intervall-symmetrischer Akkord exponiert, der aus den Tönen der Hymne sowie wesentlichen chromatischen Nebenstimmen derselben aufgebaut ist. Aus diesem Akkord resultieren alle klanglichen Ereignisse, die sich in freier Fantasieform entwickeln.

      Stephan Peiffer


Stephan Peiffer
Drei Quintettsätze für Klarinette, Horn, Violine, Viola und Violoncello (2011)

1) Zuerst war mir klar, dass eine einfache Variationenfolge über das Brahmsthema meinen Vorstellungen nicht gerecht würde. Wichtiger war mir das Anliegen, typisch brahmssche Kompositionstechniken mit dem eigenen Stil zu verbinden. Schließlich habe ich mich dazu entschlossen, in drei Sätzen mich nach und nach an das Brahmsthema anzunähern, wobei es selbst erst im letzten Satz auch zitiert wird (selbst die eher nüchternen Titel könnten von Brahms stammen). Aufgrund des bereits sehr hohen Verbrauchs dieses Themas in der Rezeptionshistorie kam ich nicht umher, auch die satirische Betrachtungsweise mit einzubeziehen.

2) Nicht nur das besagte Thema selbst wird verarbeitet, in allen drei Sätzen wird es mit Gedanken und Motiven aus seinem Umkreis verstrickt. Den Ausgangspunkt bildet im ersten Stück das von Joseph Joachim geborgte FAE-Motto ("Frei, aber einsam", umgekehrt: "Einsam, aber frei"), das Thema aus dem Finalsatz von Brahms' 1. Sinfonie ist rhythmisch und in der Tonfolge noch verzerrt, aber schon erkennbar. Im zweiten Stück spielt dann das aus der Einleitung des Finalsatzes der 1. Sinfonie stammende Alphornmotiv eine wichtige Rolle, während in der abschließenden, nicht zu ernst gemeinten "Rhapsodia hanseatica" auch mit dem Ausgangsmotiv deutlich verwandte Themen beinahe collageartig zitiert werden: mehrere weitere Motive aus dem Finalsatz der 1. Sinfonie von Brahms, das Hauptthema aus dem ersten Satz der 2. Sinfonie sowie das Finalthema der 3. Sinfonie; schließlich das einleitende Kopfmotiv der 3. Sinfonie Gustav Mahlers (der ebenfalls in Hamburg gewirkt hat), welches eine frappierende Ähnlichkeit zu dem Brahmsthema aufweist.

     Stefan Schäfer


Stefan Schäfer
Nordisch Nobel für Horn, zwei Violinen, Viola und Violoncello (2011/12)

1) Als Orchestermusiker erlebe ich das Spielen der Brahms-Sinfonien nicht nur als tägliches Brot, sondern immer wieder als etwas ganz Besonderes. Als Assoziation zum Thema aus dem letzten Satz der 1.Symphonie fiel mir spontan die Bezeichnung "Nordisch Nobel" ein, die ich dann sofort als Titel für meine Komposition gewählt habe. Diese sehr eigene Wortkombination verwendet Herbert Grönemeyer in seinem Lied "Der Weg" als Nachruf auf seine aus Hamburg stammende und früh verstorbene Ehefrau. Die komplette Textzeile "Nordisch nobel - deine sanftmütige Güte, dein unbändiger Stolz .. Das Leben ist nicht fair." habe ich gerne als Bild auf Brahms übertragen, und so zum Ausgangspunkt meiner Komposition gemacht.

2) Da Brahms als Instrumentierung des berühmten Themas Streicher und Hörner gewählt hatte, habe ich mich für die Besetzung Hornquintett (Horn und Streichquartett) entschieden. Von der Harmonik und vom Tempo her gibt es einige konkrete Bezüge zum Ausgangsmaterial.
Dabei habe ich versucht, dem Aspekt der Erinnerung von einer sehr emotionalen Seite zu begegnen. Der Hornist spielt zunächst von Ferne - erscheint noch einmal, bevor er endgültig verschwindet ...

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