Jobst Liebrecht


Beauty – be not caused
Interview mit Jobst Liebrecht

Der Komponist und Dirigent Jobst Liebrecht hat im Auftrage des Vereins kammermusik heute e.V. eine neue Komposition für das ensemble acht geschrieben. Stefan Schäfer befragte den Komponisten.

Stefan Schäfer: Man könnte Jobst Liebrecht als sehr universellen Musiker bezeichnen. Sie sind nicht nur Komponist, sondern auch Dirigent, Cellist und Pädagoge. Fließen all diese unterschiedlichen Tätigkeiten in die Arbeit als Komponist ein?

Jobst Liebrecht: Ungefähr zur gleichen Zeit, als ich beschloss, Musiker zu werden, dieses war relativ spät mit Anfang zwanzig, setzte bei mir das Komponieren ein. Es war, als ob ich mich gegen die klassische Musikwelt wappnen musste, indem ich immer wieder, und häufig in krisenhaften Situationen, ganz neu und ganz nah bei mir den Zugang zu der Musik suchte. Als ob ich immer wieder etwas von Grund auf neu buchstabierte.

Mehrere Jahre waren Sie Assistent von Hans Werner Henze. War diese Zeit für all Ihre musikalischen Betätigungsfelder prägend? Oder haben Sie speziell für Ihre kompositorische Arbeit Anregungen mitgenommen?

Die Arbeit bei Hans Werner Henze hat ganz allgemein mein künstlerisches Stilgefühl und ganz speziell auch meine Haltung als Mensch in der Kunstwelt geprägt. Dabei wurde ich weniger als Dirigent, sondern tatsächlich mehr als Komponist von ihm gefördert. Er war einer der ersten, die mir das Zutrauen gaben, dass das, was ich dort mache, nicht nur ein Privatvergnügen ist – eine private Notwendigkeit war es ja ohnehin.

In Berlin Marzahn-Hellersdorf leiten Sie das Jugendsinfonieorchester der Hans Werner Henze-Musikschule. Früher haben Sie im Hamburger Jugendorchester als Cellist erste musikalische Erfahrungen gesammelt. Wie gestaltet sich die Orchesterarbeit in einer der größten Plattenbausiedlungen Europas?

Die äußeren Umstände dort legen tatsächlich sehr viele Schwierigkeiten in den Weg. Andererseits haben diese gewisse kulturelle Leere und Wüstheit mich von Anfang an stark affiziert. Es ist dort aus Mangel an klassischer Vorbildung eine große Offenheit vorhanden, starke Energie, die sich Ventile sucht. Ich bin hier in Hamburg in einem Stadtteil unter stellenweise vergleichbaren Bedingungen aufgewachsen, fühle mich von daher manchmal wie im selben Boot.

In der gemeinsamen Arbeit mit den Jugendlichen suchen Sie sehr stark auch den Kontakt zu lebenden Komponisten. So haben z.B. Jan Müller-Wieland und Detlev Glanert (beide Ehrenmitglieder des Vereins kammermusik heute e.V.) für Ihr Orchester geschrieben. Wie reagieren die Jugendlichen auf die Begegnung mit zeitgenössischer Musik?

Schön ist, dass lebende Komponisten persönlich anwesend sind, ihre Musik verkörpern und ganz konkret befragbar machen. Jede und jeder reagiert anders, und jedes neu komponierte Stück wird ganz individuell aufgenommen. Die jüngeren Kinder sind in der Regel emotional offen und künstlerisch abenteuerlustig. Dieses nimmt mitunter etwas ab, je mehr die jungen Leute mit Abitur und Studium in die Beurteilungssysteme der Gesellschaft geraten. Doch ganz allgemein herrscht in Marzahn ein gewisser Stolz, das „innovativste“ Jugendorchester Berlins zu sein.

Als Dirigent erarbeiten Sie ja regelmäßig Partituren anderer Komponisten. Besteht da eigentlich die Gefahr, einen anderen Komponisten zu kopieren? Oder gibt es Erkenntnisse aus der Dirigententätigkeit, die Ihnen beim Komponieren nützlich sein könnten?

Ich würde eher umgekehrt sagen, dass meine Kompositionstätigkeit immer mein Dirigieren beeinflusst hat. Ich sah die Erarbeitung eines fremden Stückes und die Aufführungen, die ich als Dirigent leitete, immer als Versuche des Lesens einer Partitur. War ich früher ganz und gar von der Buchstabentreue geprägt, ist dann im Laufe der Zeit durch ganz unterschiedliche Einflüsse wie die Begegnungen mit Henze oder mit Einar Schleef oder auch nur durch das Spielen von banalen Filmmusikpartituren ein wie ich hoffe kreativerer Zugang zu den Noten dazugekommen.

Ich glaube an die Personalunion von Interpret und Komponist vor dem Hintergrund eines musikantischen Grundideals. Es wird häufig gesagt, Strawinsky oder Hindemith konnten nicht gut dirigieren oder ähnliches, trotzdem war ihre Musik, wenn sie sie selbst in den Fingern hatten, ganz präsent und persönlich da und im höchsten Maß eindrucksvoll. Dieses wiegt für mich dann auch schwerer als die Magie der Interpreten, wie ich sie zum Beispiel bei Carlo Maria Giulini noch erleben durfte.

Wo würden Sie Ihre eigene Musik stilistisch einordnen?

Wenn ich etwas zu sagen habe, dann versuche ich, dafür die kürzeste und geschlossenste Form zu finden. Ich würde mich als musikalischen Lyriker bezeichnen. Von klein auf war neben meinem musikalischen Interesse das sprachliche und literarische gleich stark vorhanden. Ich sehe mich da in einer deutschen Tradition, wie sie etwa von Robert Schumann verkörpert wird. Dieses war auch immer eine Brücke zu der Arbeit von Hans Werner Henze.

Anfangs habe ich nur Lieder komponiert. Als Cellist habe ich eine nicht zu unterdrückende Schwäche für Melodien. Ich glaube an das Aufsteigen von Melodien in entscheidenden Lebenssituationen. In meinem musikalischen Denken spielen dann die Logik einer Struktur, sich verkürzende, verknappende Abläufe, repetitive Muster eine große Rolle. Kühnheit und forschender Impetus in den Arbeiten von Ligeti, Lachenmann oder Grisey, die ich selbst musizieren durfte, haben mich stark beeindruckt. Beeindruckt haben mich alle Erscheinungen einer „musica impura“: verunreinigte Klänge, Geräusche, Vierteltöne, querstehende skurrile oder abseitige Details.

In Ihrer neuen Komposition „ amherst chambers“ – Variationen für Oktett (Kompositionsauftrag des Vereins kammermusik heute e.V.) haben Sie sich von einem Gedicht der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson inspirieren lassen. Ist dieser Bezug assoziativ gewählt oder gibt es konkrete Bezüge, die in die Komposition eingeflossen sind?

Das Thema der „amherst chambers“ basiert auf einem kurzen Lied von mir über das Emily Dickinson-Gedicht „Beauty – be not caused“, das ich mit Anfang zwanzig komponiert habe. Das Gedicht handelt pauschal gesagt von dem vergeblichen Versuch, die Schönheit aktiv einzufangen. Die Gedichte Emily Dickinsons hatte ich zu Beginn meines Komponierens zu einer Art Ausgangspunkt genommen. Ihre kristallene Schönheit und Klarheit und ihre fast Klaustrophobie auslösende formale Geschlossenheit haben mich immer sehr bewegt. Ich habe damals eine ganze Reihe von Liedern darauf komponiert.

Die ca. 13-minütige Komposition hat ein Thema und zahlreiche Variationen. Was hat Sie an der Variationsform besonders gereizt?

Ich hatte sozusagen einen doppelten Plan, als ich die Variationsform wählte. Ich wollte zum einen ausprobieren, wie weit man ein so stark verdichtetes Material wie das eines sehr kurzen Liedes variieren und ausführen kann, ohne dass es belanglos und zerfasert wird, wie weit dieses Variieren etwas zusätzliches überhaupt bringt. Zum anderen wollte ich auch dieses damals von mir aufgeschriebene kleine Stück Musik von meiner heutigen musikalischen Erfahrung her reflektieren und etwas daraus entwickeln.

Die poetische Idee, die dem Titel „amherst chambers“ zugrunde liegt, bezieht sich auf das Wohnhaus in Amherst, Massachusetts, in dem Emily Dickinson Jahrzehnte ihres Lebens völlig zurückgezogen und unbekannt bis zu ihrem Tod gelebt hat. Die Variationen stehen für die Räume dieses Hauses , bilden also auch von daher eine „Kammer-Musik“. Im Verlaufe des Stückes greife ich auf fremde Teile der Lied-Miniaturen zurück, verlasse also auch den strengen Variationsweg durch die Räume. Außerdem werden die Vorgänge einer Art tonal gebundener Kadenz unterworfen, die u.a. dadurch entsteht, dass die Streicher ihre Instrumente sukzessive nach unten verstimmen.

Ganz grundsätzlich wollte ich dieses Oktett betont traditionell schreiben. Mit der Variationsform, der ich mich unterziehe, versuche ich auch, dem genius loci, wie er in Hamburg Johannes Brahms heißt, meine Verehrung zu bezeugen.

Sie haben dabei für das Ensemble Acht in der Schubert-Oktettbesetzung geschrieben. Sind die Musiker in Ihrer Komposition ein kleines Orchester, ein Kammerensemble oder acht Solisten?

Ich würde sie als Kammerensemble bezeichnen. Obwohl jede Musikerin, jeder Musiker einzeln auch hervortritt, geschieht dieses nicht ausgesprochen virtuos und nicht aus Selbstzweck, sondern sie stellen zusammen etwas dar und bringen in enger Abstimmung etwas auf eine imaginäre Bühne.

Der Verein kammermusik heute e.V. initiiert seit rund zehn Jahren neue Kammermusik-projekte. Diese neuen Werke werden immer in Programme mit klassischen und romantischen Kompositionen eingebunden. Es soll damit bewusst ein Zusammenhang zum bestehenden Repertoire hergestellt werden. Wie beurteilen Sie diese Aktivitäten?

Das kann beides, bestehendes Repertoire und neues Stück, nur beflügeln und neu beleuchten.

Sie sind in Hamburg aufgewachsen, leben aber seit vielen Jahren in Berlin. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Neuen Musik-Szene in Hamburg? Was hat in dieser Hinsicht die Hauptstadt zu bieten, was Hamburg fehlt?

Die neue Musik braucht staatliche Unterstützung. Sie braucht neben privaten Mäzenen Politiker, die an einer gegenwärtigen Kunst interessiert sind. Sie braucht vor allem abenteuerlustige Interpreten, die bis zur Selbstaufgabe scheinbar unlösbare Aufgaben lösen mögen, die es vertrackt und kompliziert und herausfordernd lieben. Sie braucht dann ein Publikum, das erkennt, dass die neue Musik von heute ganz genau von seinen Themen handelt. Alles dieses gibt es, so hoffe ich, auch in Hamburg, und hoffentlich immer mehr.

Welche Musik hören Sie zur Zeit? Gibt es da aktuelle Kammermusikliteratur, die Ihnen besonders am Herzen liegt? Und als langjähriger Assistent: Ihr Lieblingsstück von Henze?

Im Moment habe ich, nach langen Jahren, endlich, wieder eine Phase, in der ich Franz Schubert höre, soll heißen: seine Musik emotional aushalten kann. Meine momentane Verehrung geht soweit, dass ich gerade eine Fassung seiner „Gesänge des Harfners“ mit Zwischenmusiken, einem Harmonie-Chor und einem Ensemble angefertigt habe.
Da ich als Dirigent arbeite, muss ich, was das Musikhören angeht, das Geständnis machen, dass ich manchmal eigene Aufnahmen anhöre. Da ist auch der „Pollicino“ von Hans Werner Henze dabei, das nicht nur dadurch ein Stück Musik von ihm ist, dem ich mich besonders verbunden fühle. Besonders nah sind mir auch seine Stücke „Tristan“ und die erste „Sonata per archi“, die ich dirigiert habe.

Von der neueren Kammermusik war ich zuletzt völlig begeistert von dem jungen italienischen Komponisten Francesco Filidei, der mitunter über einen geradezu Haydn`schen Witz verfügt. Das ist eine Gabe, die ich überaus schätze, denn das Leben ist ja ernst genug, wie man so sagt.

Zur Person Jobst Liebrecht

Jobst Liebrecht ist als Komponist, Dirigent und Pädagoge tätig. Der gebürtige Hamburger studierte Dirigieren an der Münchner Musikhochschule sowie bei Peter Eötvös. Lange Jahre war er Assistent von Hans Werner Henze. Konzertreisen führten ihn als Dirigent ins In- und Ausland, u.a. ans Wiener Burgtheater und an die Opernhäuser in Hamburg, Halle und Gießen. Zahlreiche Rundfunkaufnahmen und CD-Einspielungen z.B. bei den Labels Wergo und ECM/ harmonia mundi liegen von ihm vor. Die Aufnahme von Henzes Märchenoper „Pollicino“ unter seiner Leitung wurde mit dem ECHO Klassik 2004 ausgezeichnet. 2010 erschien die von ihm erstmals rekonstruierte, bearbeitete und dirigierte Fassung von Paul Hindemiths „Plöner Musiktag“. Seit 2005 leitet er in Berlin das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf, das durch eine Vielzahl von Uraufführungen und innovativen Jugendprojekten auf sich aufmerksam macht.

Als Komponist ist Jobst Liebrecht mit Kammermusik und Liedern von aphoristischer Kürze hervorgetreten. Seine Werke wurden vom Ensemble Diabolicus am Theatre du Chatelet in Paris, vom Strawinsky-Ensemble, Amsterdam, sowie von den Solisten Simone Nold und Dietrich Henschel uraufgeführt. Er schrieb Theatermusiken zu den Aufführungen „ Lucie Cabrol“ ( Regie: Vera Sturm ) und „Des Knaben Wunderhorn“ (Regie. Alfred Kirchner) am Tübinger Zimmertheater. Für das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf schuf er eine Vielzahl von Werken, zuletzt „alleinsam/schubert-panorama – die gesänge des harfners“ für Tenor, Harmonie-Chor und Ensemble (2011).

Werkverzeichnis (Auswahl):

„6 Stücke für Streichquintett und Harfe“ (1990-91/2004)

„7 Lieder auf Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann“ für Bariton und 7 Streicher (2004)

„7 kurze Stücke“ für Sprecher/ in, Bläserquintett und Kontrabass (2004)

„5 Lieder auf Gedichte von Ernst Jandl“ für hohe Männerstimme und Ensemble/ Orchester (2004)

„nöbels traum“ für Sopran, Horn und Klavier (2007)

„Le soleil de la nuit“ für Industriemaschinen und Instrumente (2004, rev. 2007)

„3 kurze Stücke für kleines Orchester“ (2008)

„6 lieder auf gedichte von hilde domin“ für Sopran und Klarinette (2009)

„5 englische romanzen“ für Mädchenchor (2010)

„amherst chambers“ Variationen für Oktett ( 2010 ) „alleinsam / schubert-panorama – die gesänge des harfners“ für Tenor, Harmonie-Chor und Ensemble (2011).

Das Gedicht von Emily Dickinson lautet:

Beauty – be not caused – It Is –
Chase it, and it ceases –
Chase it not, and it abides –
Overtake the Creases

In the Meadow – when the Wind
Runs his fingers thro' it –
Deity will see to it
That you never do it –

Jobst Liebrecht
amherst chambers – Variationen für Oktett
Kompositionsauftrag des Vereins kammermusik heute e.V.

0. thema;
1.allegretto comodo;
2.scherzo non troppo presto;
3.scherzo in tempo di valse lento;
4.choral;
5.lento rubato – „recitativo drammatico“;
6.agitato presto;
7.notturno – „introduktion und tanz“;
8.lontano – sehr ruhig und langsam;
9.intermezzo – „entreacte cinematographique“ – schwungvoll;
10.andante mesto e lugubre;
11.finale in tempo di passacaglia;
12. epilogo spettrale

CD-Tipp
Plöner Musiktag
wergo - WER 67282

Die Ersteinspielung von Paul Hindemiths „Plöner Musiktag“: Seit der Uraufführung 1932 durch den Komponisten selbst war das pädagogische Werk nicht mehr vollständig zu hören. Initiiert und bearbeitet durch den Dirigenten Jobst Liebrecht haben die Hans-Werner-Henze-Musikschule Marzahn-Hellersdorf sowie das dortige Jugendsinfonieorchester mit Unterstützung mehrerer Berliner Kinderchöre den musikalischen Tag am 13. Oktober 2008 in Berlin realisiert.

Für das Großprojekt konnten außerdem der renommierte Bariton Dietrich Henschel sowie Musiker des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin gewonnen werden. Ziel dieser ambitionierten Initiative ist es, junge Musizierende mit Profis zusammenzuführen und sich „spielerisch" den Ideen des Komponisten Hindemith zu nähern: „Ich erhoffe mir zum einen, dass man diese Musik als einen Höhepunkt in Hindemiths pädagogischem Werk und in seinem Schaffen wahrnimmt", sagt Dirigent Jobst Liebrecht. „Zum anderen erhoffe ich mir für die Hans-Werner-Henze-Musikschule in Marzahn-Hellersdorf oder allgemeiner für die Berliner Bildungspolitik, dass man sich der Wurzeln und Ideale besinnt, mit denen die Musikschulbewegung begann, und dass man aus dem richtigen Traditionsbewusstsein heraus weiter voran geht."

Der „Plöner Musiktag“ setzt einen ganzen Tag in Musik: Die vier Teile Morgenmusik, Tafelmusik, Kantate und Abendkonzert sind für unterschiedliche Schwierigkeitsstufen und Besetzungen konzipiert – vom Blockflötentrio bis zum Orchesterstück und zum dreigeteilten Chor. Hindemith verfasste das Werk für einen viertägigen Aufenthalt in einem Internat im Juni 1932 in Plön, Schleswig-Holzstein, wo er zusammen mit Schülern musizierte.

Konzerthinweis:
Amherst chambers
Samstag, den 28.9.2013 um 20 Uhr
Tischlerei der Deutschen Oper
Landesjugendensembles Neue Musik Berlin
Leitung: Jobst Liebrecht

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