Jan Müller-Wieland


Uraufführung
1.Oktober 2001
Hamburg, Freie Akademie der Künste
ensemble acht


„Vagabondage“ – Oktett von Jan Müller-Wieland

Hermann Schäfer war Professor für Komposition und Theorie an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim. Er hat sich mit der neuen Partitur von Müller-Wieland auseinandergesetzt und schildert seine Eindrücke von dem noch nicht aufgeführten Oktett. Hermann Schäfer ist Mitglied im Verein kammermusik heute e.V.

Ein umfangreiches Werkverzeichnis mit zahlreichen Beiträgen zu den Bereichen Orchester-, Kammer-, Vokal- und Bühnenmusik weist auf die Vielseitigkeit des Komponisten Jan Müller-Wieland hin. Entscheidende Anregungen auf dem Wege zu einer eigenständigen Tonsprache empfing er durch seinen Lehrer Hans Werner Henze, der ihn mit der Ästhetik und Form der Oper und des dialektischen Sonatenprinzips vertraut machte und der seinem Schüler ein waches Traditionsverständnis ans Herz legte. Eine radikale Auflösung überkommener Formen und Techniken lehnt er ab und plädiert statt dessen für deren Einbeziehung und Weiterentwicklung in der zeitgenössischen Musik. Müller-Wieland bekennt sich in diesem Sinne als Traditionalist.

Seine Verbundenheit mit der Vergangenheit lässt er auch in seinem Oktett „Vagabondage“ erkennen, einem Kompositionsauftrag des Vereins kammermusik heute e.V. - dem ensemble-acht gewidmet. Das lebendige musikalische Geschehen entwickelt sich aus dem Mit- und Nebeneinander einiger einprägsamer musikalischer Gedanken, wie zu Beginn des Stückes, wo einem in kraftvollen Intervallen aufsteigendem Thema mit charakteristischem punktiertem Rhythmus eine synkopierte Stimme mit kleinen Intervallen gegenübergestellt wird und perkussionsartige kurze Einwürfe für zusätzliche Spannung sorgen. Im Laufe des Stückes werden diese und neu hinzutretende Gedanken variiert und umgeformt, sie erscheinen in anderen Konstellationen, unter wechselnder Führung einzelner Instrumente, denen dabei neue verfremdete Klangmöglichkeiten abgetauscht werden. Traditionelles/Tonales schimmert auch in der Harmonik immer wieder durch, wenn, wie oft, Oktaven in extremen hohen Lagen mit Quinten und kleinen Sekunden angereichert und damit zum Vibrieren gebracht werden.

Mit Henze teilt Müller-Wieland auch eine starke Affinität zu literarischen Vorlagen. Fast in jedem Werk, selbst in der reinen Instrumentalmusik, findet sich versteckt oder offen die Idee des Szenischen, gemäss seinem Credo „Es geht mir um Empfindungen, Assoziationen, Bilder, Szenen und Texte. Ich möchte sie durch das Vertonen auf eine Wirklichkeitsstufe transportieren, so wie ich sie erlebe, erlebt habe und erleben möchte“. Ob das Oktett, wie es der programmatische Titel “Vagabondage“ (= Landstreicherei, Schweifen der Phantasie) nahe legt, als imaginäre Theaterszene zu deuten ist, bleibt offen. Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer fortschreitenden Entwicklung (Handlung) durch einen häufig abrupten Wechsel von bewegten und stehenden Klängen und durch starke rhythmische, dynamische und farbliche Kontraste. Illusionen einer fiktiven Handlung stellen sich am ehesten in der Mitte und vor allem gegen Schluss des Satzes ein. In der Mitte: Ausdrucksbezeichnungen poco a poca feroce - piu mosso – ferferocissima für drei aufeinanderfolgende Abschnitte; In den Schlussakten Anweisungen für das Horn: Schalltrichter hoch – protzig – jammernd – schleifend – wüst – Hornist aufstehen – im Stehen triofante spielen – sich wieder setzen – Klarinette aufstehen – sich wieder setzen.

aus: impulse Nr. 1, Okt. 2001

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Vita – Jan Müller-Wieland

Der 1966 in Hamburg geborene Jan Müller-Wieland wurde 1992 in Hamburg bekannt durch den Erfolg seiner Kammeroper „Kain“, die er für die Hamburgische Staatsoper schrieb. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Darunter 1993 den Förderpreis des Hamburger Bach-Preises. Nach seinem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo zog er als freischaffender Komponist und freier Gastdirigent nach Berlin.

Inzwischen ist sein Oeuvre auf über siebzig Werke angewachsen, u.a. durch Aufträge der London-Sinfonietta, der Hamburger- und Münchner Philharmoniker, des Deutschen Symphonieorchesters Berlin, der Cité de la Musique in Paris, der Staatsoper Unter den Linden und der EXPO.

Seine ehemaligen Kompositionslehrer Friedhelm Döhl in Lübeck, Hans Werner Henze in Köln und Rom sowie Oliver Knussen in London entdecken immer wieder neue Entwicklungen in seiner Arbeit.

Im Herbst 2001 wird in Görlitz, Tel Aviv, Limassol und Nicosia Müller-Wielands siebtes Musiktheaterstück „Nathans Tod“ nach George Tabori Premiere haben. Danach schreibt Müller-Wieland ein Schlagzeugkonzert für Peter Sadlo, das 2002 in Stuttgart uraufgeführt wird. Als Dirigent machte sich Müller-Wieland einen Namen u.a. mit dem Bundesjugendorchester, der Berliner Staatskapelle, der Elbland - Philharmonie und des Tangle-wood – Festival – Orchestra. Im Herbst 2000 folgt er einer Einladung der Goethe Institute in Hanoi / Vietnam und Kyoto / Japan. Dort gibt er Lectures, Workshops sowie Kammer- und Orchesterkonzerte.

www.janmueller-wieland.de

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Interview mit Jan Müller-Wieland
„Irgendwo sind wir alle Vagantinnen und Vaganten...“!

Das Interview mit dem Komponisten Jan Müller-Wieland führte Stefan Schäfer.

Stefan Schäfer: Der Verein kammermusik heute hat Dir einen Kompositionsauftrag erteilt. Du solltest für das ensemble acht ein Oktett schreiben. Wie bist Du mit dem ensemble acht in Berührung gekommen?

Jan Müller-Wieland: Zum ersten mal gehört habe ich das ensemble acht im Konzerthaus in Berlin. Ich glaube im März 1997. Das war sehr schön und sehr gut. Das Stück von Glanert wollte ich natürlich erleben. In London habe ich dann mit der Bratscherin, der Antonia, einmal gefrühstückt, ich glaube das war im Dezember 98, es war bitterkalt, aber sehr nett. Da habe ich gemerkt, dass das Ensemble ernsthaft was von mir will.

In Deinem Oeuvre nimmt Kammermusik einen großen Stellenwert ein. Allerdings gibt es bei Dir keine Vorliebe für bestimmte Gattungen und Instrumente. Welche Klangmöglichkeiten haben Dich an der klassischen Schubert-Oktett Besetzung gereizt?

Na ja, also Klangmöglichkeiten findet man auch beim Rühren in der Kaffeetasse – ich meine Klangmöglichkeiten findet man überall. Mich motiviert eher, wenn die Interpre-ten spannende Menschen sind. Das Klangliche kommt später. Ich habe z.B., das ist kein Witz, beim Notieren des Bratschenparts des Öfteren an dieses Frühstück mit Antonia gedacht und ob Ihre Hand diesen Griff jetzt, den ich da gerade schreibe, spielen kann. Antonia ist dann ja schließlich die Schauspielerin der Bratschenstimme. So entstehen bei mir Klangmöglichkeiten. Wenn man sie aber nicht spielen kann und man keine Lust hat, sie zu spielen, entstehen sie nicht.

Du hast dich selbst als Traditionalist bezeichnet. Gibt es in „Vagabondage“ außer der Besetzung andere Beziehungen zum Schubert-Oktett oder anderen Klassikern?

Das Traditionelle ist meines Erachtens in der Kultur immer das Weiterleben des Andersdenkenden. Schubert hat anders gedacht in seiner „Wandererfantasie“ als Beethoven. Ich glaube, er wusste auch genau warum. Nono hat in „ Hay que caminar“ anders gedacht als Lachenmann. Unterbewusst laufen da Debatten ab. Das „Camminare“, das Gehen und Wandern hat mich beschäftigt. Die Gelassenheit daran und das Lineare. Doch habe ich anders gedacht als Nono oder Schubert.

Ich komme noch mal auf Dein erwähntes Frühstück zurück. Die Tatsache, wer die Musik spielt, hat also Einfluss auf deine Arbeit. Dies erleichtert Dir offensichtlich den Zugang. Wo und wann hört der Einfluss auf und verselbstständigen sich Deine Ideen?

Jeden Morgen, wenn ich anfange zu schreiben, muss ich wieder den Absprung finden, um wieder ins Stück reinzukommen. Zum Einen geschieht dies durch das Lesen und Abspielen der Skizzen, zum Anderen eben durch das Denken an die geplanten Interpreten. Ja, und irgendwann vergisst man alles und auch sich. Manchmal wird das dann ganz gut oder es entstehen Fehler. Dramaturgische, Spiel-technische oder irgendwie von der Balance her. Das muss man dann am nächsten Morgen wieder klären. Es ist ein bisschen wie bei einer Orchesterprobe. Manchmal wird sie ein toller Trip oder sie wird fummelig. Warum und wodurch sie manchmal zu einem Trip wird, das kann man wohl kaum genau sagen, und ich glaube, dadurch wird der Trip erst möglich.

Es gibt einige Parallelen zwischen Dir und Detlev Glanert. Allein von der Biografie her: In Hamburg geboren, bei Henze in Köln studiert und lebt beide in Berlin. Glanert hat für das ensemble acht eine Chaconne geschrieben, die Du später auch dirigiert hast.

Nein. Das war nicht nötig. Es war aber so angekündigt.

Ach so, trotzdem die Frage wie wichtig für Dein Schreiben sind Deine Erfahrungen als Dirigent?

Sie sind sehr wichtig, weil: „It’s learning by doing“

Und bezüglich unserer Oktett-Besetzung?

Also, falls „Vagabondage“ dirigiert werden müsste, wäre das nicht einfacher als ein Orchester zu dirigieren. In einem Kammerensemble ist alles demokratischer. So furchtbar das klingt, aber das macht es für einen Dirigenten nicht einfacher. Wenn ein Kammerensemble nicht homogen ist, wirkt sich das viel stärker aus, und bedeutet für einen Dirigat viel mehr Rücksichtnahme. Für das große Orchester dagegen ist es viel besser, wenn man mit genauestem Probenkonzept und ohne viel Reden seine Wünsche zwar egozentrisch, aber eben leidenschaftlich durchzieht. Übrigens sind die Vita-Parallelen zu Glanert zwar schön, aber zufällig. Wir schreiben, leben und arbeiten ganz unterschiedlich.

In Deinen Werken begegnet man häufiger Bezeichnungen und Atmosphären, die an Zirkuswelt und Straßenmusik erinnern. Du hast einmal gesagt: „Ein beträchtlicher Teil meiner Phantasie wandert immer in die Richtung einer imaginären Volks- und Straßenmusik und einer musikan-tischen Musiktheater-Wanderbühne“. Was verbirgt sich nun noch hinter dem Titel „Vagabondage“?

Daß wir irgendwo alle Vagantinnen und Vaganten sind. Das sind ja Leute, die Lachen machen können, was zum Weinen ist. So steht es in einem Bachmann-Gedicht, welches sich auch auf Shakespeares „Wintermärchen“ bezieht. Ich glaube, dass Musik eine akustische Freiheitswissenschaft ist. Wenn etwas frei ist, ist es aber auch allein. Zum Beispiel lebt die Geschichte des Judentums dies in den jeweiligen Gesellschaften immer wieder vor. Mich, als Nachgeborener der nachgeborenen Deutschen, frappiert das. Es löst im Inneren ein Vakuum aus und die „Vagabondage“ besingt das gewissermaßen als Lied ohne Worte. Daher ist meine Musik auch des Öfteren ganz einfach und bänkelhaft. Das Einfache meint immer das Schwierigste, merke ich immer mehr.

Du warst im letzten Winter in Wien. Dort hast Du die „Vagabondage“ geschrieben und die Uraufführung Deiner Oper „Das Märchen der 672. Nacht“ betreut. In dieser Zeit haben sich in Österreich die politischen Ereignisse geradezu überschlagen. Welche Erlebnisse haften davon immer noch in Deiner Erinnerung? Und: Gab es konkrete Einflüsse auf Deine kompositorische Arbeit?

(lacht) Ich muss gestehen, dass ich noch keine Metapher für die deutsche Spendenaffäre und das „Haider-Phänomen“ gefunden habe. Nur habe ich bemerkt, dass, während in Wien gegrantelt, in Deutschland zugetreten wird. Meine Generation hat das Neofaschistische wieder aktiviert. Es ist wohl ein Reflex auf das Globalisieren. Da ist ein unbegreiflicher Abgrund, und der beschäftigt mich ständig, denn seit „Wozzeck“ wissen wir doch schon, zumindest psychologisch, dass Täter auch Opfer sind, von Dingen, die sie wiederum bedrohen. Das sind ganz komplizierte Spiralen, und mit Verboten und Diffamierungen bekämpft man das Problem meines Erachtens nur äußerlich.

Du lebst seit sieben Jahren in Berlin, gibt es noch Anknüpfungspunkte „Hamburger Komponist“ zu sein?

Ich tue mein Bestes. Mein Elternhaus ist in Hamburg, wobei meine Eltern Berliner sind. In Hamburg ist auch mein Verleger Prof. Sikorski, Ihr probt in Hamburg, das junge Brahms-Ensemble auch, die Hamburger Oper hat mich damals eigentlich entdeckt. Ich empfinde viel Verbundenheit mit Hamburg.

Viele Kammermusik-Reihen müssen schließen, weil die Zuschüsse fehlen. Welche Ideen hättest Du, dieser Entwicklung entgegen zu steuern?

Man muss kreativer werden in der Frage, Gelder zu besorgen. Man muss aber auch Einfluss auf Menschen haben, die Zuschüsse geben könnten. Die Hamburger Kultur müsste mehr Geld bekommen. Hamburg ist so reich! Die Reichen müssten überzeugt werden. Liebermann muss das wohl unvergleichlich gekonnt haben. Die Gründung des Vereins kammermusik heute e.V. macht alles natürlich plastischer, für Menschen, die das an sich gerne unterstützen würden. Wenn Ihr Geduld habt, wird es sich für alle kulturell lohnen. Und Kultur ist im Sinne von Peter Weiss das eigentliche Widerstandsmittel gegen die Verrohung, von der wir sprachen.

aus: impulse Nr. 1, Okt. 2001

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Espressivissimo mit Ausrufezeichen

Peter Roggenkamp war Professor an der Musikhochschule Lübeck und unterrichtete Müller – Wieland im Fach Klavier. Im folgenden Beitrag erinnert sich Peter Roggenkamp an den Studenten Müller – Wieland , der ihm den Klavierzyklus CAPRICCETTI gewidmet hatte. Peter Roggenkamp ist Mitglied im Verein kammermusik heute e.V.

pppp
            dolcissimo
                                    so leise wie möglich
                                                            zart singend
                                                                        Rechte Hand mit äußerst hartem, patzigem Anschlag!
                                                                  martellatissimo, mit größter Kraft
                                    Den Tastaturdeckel mit absoluter Vehemenz herunterknallen!
fff
                                                                        spontaneo
nervsissimo
                                                                                                                        ungehalten
                                                con sentimento

Die aufgeführten Hinweise sind Bestandteil der Capricetti für Klavier, die Jan Müller-Wieland mitten im Studium in den Jahren 1987 – 1988 schrieb. Zu dieser Zeit hatte er mit verschiedenen Werken schon weit über die Lübecker Musikhochschule hinaus Aufsehen erregt, - und bald entstanden Kontakte zum weitsichtig und klug geführten Sikorski-Verlag in Hamburg, der den kompositorischen Jungstar unter Vertrag nahm. Die Capriccetti erschienen – zusammen mit dem 1987 komponierten Klavierstück – als erste Druckausgabe des Autors in der Edition Sikorski.

Der Zyklus besteht aus acht kurzen, fast ineinander übergehenden Stücken von insgesamt neun Minuten Dauer. Die Capriccetti sind nur vollständig und in der gegebenen Reihenfolge aufzuführen. Die Pausen dazwischen sollen kurz sein und lediglich dem Umblättern dienen. Jedes Stück ist mit genauen Metronomangaben versehen; im zweiten Satz lässt der Komponist angesichts extremer technischer Anforderungen allerdings mit sich handeln, wenn er schreibt: 138 Viertel (mind. 120). Im Manuskript hat er für jeden Satz sogar eine Zeitdauer in Minuten bzw. Sekunden vorgeschrieben; in der Druckausgabe wurden diese Angaben eliminiert. Jede der Bagatellen besitzt einen eigenen Charakter, der schon in den Überschriften zum Ausdruck kommt.

Giocoso- Leggero- Tranquillo- Grazioso- Furioso- Maestoso con eleganza- Con sentimento- Spontaneo

Die Spielanweisungen weisen schon darauf hin, dass das Werk in vielerlei Hinsicht extrem angelegt ist. Müller-Wieland verlangt - oft auf engstem Raum - große Gegensätze im Anschlag; dazu kommen Überlagerungen unterschiedlicher Schichten, die gleichsam polyphonisch dargestellt werden müssen. Große Anforderungen stellt er auch an die sportliche Kondition seiner Interpreten, wenn er z. B. ein hohes, manchmal fast unspielbares Tempo verlangt und dazu noch eine Vielzahl von differenzierten Anschlägen. Extreme Spannweiten wie Dezimen und - gleichzeitig in beiden Händen - Nonenketten sowie eine große rhythmische Komplexibilität bedeuten für den Komponisten Normalität.

Überall ist ein starkes Ausdruckbedürfnis sowie ein spannungsgeladener Gestaltungswille des damals erst 22jährigen, sehr dynamischen Komponisten zu spüren. Die Stücke verschmelzen- bei allen Gegensätzen- zu einer einzigen, spannungsvollen Szene, - zu einem Ausflug in surreale Phantasiewelten mit einem Espressivo, das man nicht vergisst. Müller-Wielands enge Beziehung zum Musiktheater lässt sich schon in diesem frühen Werk erkennen.

Als ehemaliger Lehrer von Müller-Wieland, zudem als Widmungsträger der Capricetti und Pianisten von deren Uraufführung, verfolge ich den Weg des Komponisten mit großem Interesse. Ich hoffe, dass sich junge Interpreten der Capriccetti annehmen und versuchen, sich ein Werk zu erarbeiten, mit dem sie sich identifizieren können.

aus: impulse Nr. 1, Okt. 2001

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Anmerkungen von Jan Müller-Wieland

Anmerkungen anlässlich der Uraufführung am 1. Oktober 2001 in Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Die Form des ca. viertelstündigen, einsätzigen Stückes ergab sich durch den Leitgedanken des Vagabundierens. „Vagabondage“ ist eine „Wandrerei“ und beinhaltet meine Wandererfantasien.

Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass sich folien und reliefhaft eine Art Sonatenhauptsatzform ergab: A-Teil - B-Teil - ein modifizierter A-Teil - eine Durchführung - ein B - Teil und eine Art Finale. Diese klassische Form spielt eine besondere Rolle, weil Dramaturgie und Verlauf für mich sehr wichtig sind. Die Vortragsanweisungen in der Partitur deuten den Grundcharakter dieser „Vagabondage“ an: „allegro - meno mosso - tempo primo: poco a poco feroce - piu mosso - feroce - andante - allegro molto - ferocissimo - trionfante“. Das heißt also: „heiter - weniger schnell - schnell wie zuvor: allmählich wild - schneller - wild - gehend - sehr heiter - sehr wild - triumphierend !“. Das Stück beginnt mit einem Thema der Bläser, das aus vier Sechzehnteln besteht. Diese Motivfloskel wird gespreizt, mit anderen Klängen angereichert, zerstückelt und geschnipselt, so dass verschiedene Formen von Agogik und Gesten geschehen - praktisch wie bei einem kubistischen Bild, das zerschnitten und wieder zusammengesetzt wird. Nach 150 von insgesamt 437 Takten fällt ein musikalisches Thema besonders auf: Das Fagott (später auch die 1.Violine) spielt eine schlichte Floskel, die etwas linear erscheint und einem bekannt vorkommt. Es ist ein Quasi-Zitat (kein Originalzitat) aus der jiddischen Klezmer-Musik und bildet einen Ruhepol im Stück. Die charakteristischen Noten dieses Zitats sind die kleine Sekunde und davor die große Terz. Sie machen diesen seltsam melancholischen und typischen jiddischen Tonfall aus. Nicht zuletzt wegen meiner Musiktheaterarbeit hat mich die Klezmer-Musik sehr beschäftigt. Das „quasi-jiddische“ Motiv ist eine Referenz an meine der „Vagabondage“ vorausgegangene Oper „Na-thans Tod“ nach George Tabori. Es kommt aus einer anderen Welt - einer Welt, in der ich nicht lebe. Eine vergangene Welt, von der ich glaube, viel zu wenig zu wissen.

Sechzehntelmotiv und „Quasi-Zitat“ sind zwei Fixpunkte; dazwischen sonatenhafte Formversuche, Bildungen, Zerstörungen, Flächenbildungen, Dramatisierungen, Wiederauflösungen und dann eine Art von Abgesang: ein Kehraus. Das Stück ist für mich eine Art von Humoresque. Die Bläser stehen am Ende des Stückes verfrüht auf. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich das Ganze als Szenerie verstehe. Auf „Teufel-komm-raus“ habe ich versucht, irgendwie einen positiven Schluss in das Stück zu bringen. Auf der Welt, im Leben und in der Musik muss es weitergehen.

aus: impulse Nr. 2, März 2002

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Vagabondage-Oktett

Vita Jan Müller-Wieland

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Espressivissimo mit Ausrufezeichen

Anmerkungen von Jan Müller-Wieland


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